Schwarz, nur ein Mal Rot

Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand zeigt unbekannte Bilder aus Auschwitz

  • Ingrid Heinisch
  • Lesedauer: 5 Min.
Der polnische Journalist Marian Turski, Auschwitzüberlebender, kam zur Ausstellungseröffnung
Der polnische Journalist Marian Turski, Auschwitzüberlebender, kam zur Ausstellungseröffnung

Eine Zeichnung, entstanden im Konzentrationslager Auschwitz Birkenau: Ein kleiner Junge mit einer Matrosenmütze an der Hand des Vaters an der Rampe von Birkenau. Hinter ihnen drängen sich viele Menschen, und ganz im Hintergrund sieht man SS-Bewachung mit Gewehren. Die Szene beschreibt offensichtlich die Ankunft von Juden an der Rampe von Birkenau. SS-Leute haben die Menschen gescheucht und zielen mit ihren Waffen auf sie. Das Bild ist so realistisch, der Betrachter spürt förmlich das Entsetzen der Menschen.

Wer diese und weitere Zeichnungen angefertigt hat, ist unbekannt. Gefunden hat sie ein ehemaliger Häftling in einer Flasche auf dem Gelände des ehemaligen KZs. Ist es die eigene Geschichte, der Junge der Sohn des Zeichners, das Gesicht des Vaters ein Selbstporträt? Dafür spricht das nächste Bild des Zyklus: Vater und Sohn werden von SS-Leuten auseinandergerissen, wieder ist es der Junge mit der Matrosenmütze. Sie strecken vergeblich die Hände nacheinander aus.

22 Bilder gehören zu dem Zyklus, den das Internationale Auschwitz Komitee jetzt zum ersten Mal in einer Ausstellung anlässlich des 65. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zeigt. Ihr Titel: »Was an Erinnerung bleibt«. Warum diese ungeheuer ausdrucksstarken und aussagekräftigen Bilder niemals vorher öffentlich gemacht worden, weiß niemand. Vielleicht hat in der Gedenkstätte von Auschwitz niemand erkannt, welchen Schatz man da hütet.

Die Zeichnungen des unbekannten Künstlers sind nur ein Bestandteil der Ausstellung, wenn auch der wichtigste, sie sind »Teil eines Trialogs«, wie es Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees und Kurator der Ausstellung, es formuliert. Die Zeichnungen lösen den Trialog aus, dazu kommen Texte von Überlebenden, ihre Assoziationen füllen die Bilder mit Leben. Sie ergänzen die Sinne, die über die Bilder nicht angesprochen werden. Die Gerüche, die Geräusche. Eva Szemesz z. B., die als junge ungarische Jüdin 1944 nach Auschwitz kam, benennt als eindringlichste Erinnerung, wenn es um den Alltag in Auschwitz geht: »In diesem Geruch vermengen sich: das brennende Menschenfleisch, Fett, Rauch, Gestank der Leichen mit einer Unmenge von Chlor, mit der Ausdünstung ungewaschener Menschen und der Latrinen.«

Und den dritten Teil des Trialogs geben Jugendliche: ihre Reaktionen auf diese Bilder, ihr Entsetzen, ihre Gefühle, Gefühle, die sie mit den ehemaligen Häftlingen und vielleicht mit dem anonymen Zeichner teilen. Es sind Auszubildende von VW Wolfsburg, denn seit zwanzig Jahren ermöglicht VW vier Mal im Jahr seinen Auszubildenden einen Aufenthalt in der Jugendbegegungsstätte von Auschwitz gemeinsam mit polnischen Jugendlichen. Sie, Deutsche und Polen, hören den Auftrag, den ehemalige Häftlinge ihnen erteilen. Eva Szemes: »Man muss die Republik beschützen.« – »Was für ein Gedanke«, so Christoph Heubner, »was für eine Formulierung! Die Republik schützen, und wir haben dafür Verantwortung?«

Die Ausstellung ist wie ein Mosaik. Viele kleine Teile ergeben ein Gesamtbild. Es sind Teile, die manchmal nicht zusammen zu passen scheinen. Wenn etwa der Überlebende Marian Turski bei der Eröffnungsveranstaltung sich ganz anders auf den Titel »Was an Erinnerung bleibt« bezieht als erwartet: Er bezieht sich nicht auf das Leid, das die Zeichnungen zeigen. »Die meisten Menschen haben nur schlimme Erinnerungen an Auschwitz«, sagte er, »aber ich habe zum Glück auch Gute«.

Marian Turski war als jüdischer Pfadfinder im Untergrundskampf des Ghettos von Lodz. Mit neun Freunden kommt er ins KZ Auschwitz und verliert fast seine Brille. Für ihn den schwer Kurzsichtigen eine Katastrophe. Was tun? Eine Brille im Lager zu erhalten, ist nicht schwer, es gibt sie zu Tausenden in den Magazinen vom sogenannten Kanada, wo die Habseligkeiten der vergasten Juden gehortet und sortiert werden. Aber sie haben ihren Preis: drei Tagesrationen Brot. Ein Preis, den er niemals hätte erbringen könnte, meinte Marian Turski. Drei Tage lang auf die gesamte Brotration zu verzichten, hätte seinen sicheren Tod bedeutet. Seine Freunde beschlossen, dass jeder von ihnen auf ein Drittel seiner Brotration verzichten würde. So bekam er eine neue Brille und überlebte. Wie man das nennt? » Solidarität?«

Widerspricht das der Aussage der Zeichnungen. Nein im Gegenteil, diese Zeichnungen wären nicht bewahrt worden, hätte nicht ein anderer Häftling ihren Wert erkannt und sie der Gedenkstätte von Auschwitz übergeben. Es war Jozef Odi, der diese Bilder nicht nur geborgen hat, sondern nach dem Krieg auch half, die Gedenkstätte aufzubauen. Er hat auf dem Gelände des ehemaligen Lagers bis zu seinem Tod gelebt, wie viele andere ehemalige Häftlinge auch. Und seine Tochter arbeitet seit 35 Jahren in der Gedenkstätte.

Die wohl berührendste Zeichnung der Ausstellung ist die eines Krematoriums. Da liegen Leichen vor dem Gebäude, ganz im Vordergrund ein SS-Offizier, der eine Zigarette raucht. Und im Hintergrund die einzige Farbe, die in den Zeichnungen vorkommt. Sie sind alle schwarz-weiß, aber auf dieses Blatt. Hier gibt es auch Rot, das Rot, das aus den Schornsteinen des Krematoriums quillt. Nicht nur schwarzer Rauch, sondern Feuer steigt aus dem Schornstein. So heiß war die Temperatur in der Verbrennungsanstalt.

Die Jugendlichen sind entsetzt von dem Zynismus. Ein entspannter Raucher vor dem Gebäude, in dem Menschen verbrannt werden: Wie konnte man dies gelassen beobachten? »Als ich mit unserer Gruppe unter diesen Bäumen vor der Ruine des Krematoriums stand, stand ich wahrscheinlich auf menschlicher Asche. Es war schrecklich, egal, wohin ich meine Füße setzte, Überall Asche. Dieser Wald, diese Idylle ist ein riesiger Friedhof«, so lautet einer der Kommentare auf den Schautafeln Bei der Eröffnungsveranstaltung sprach auch eine Auszubildende, Denise Weschpatat: Jeder junge Mensch solle einmal die Gedenkstätte von Auschwitz besuchen. Der Aufenthalt dort habe sie berührt wie wenig zuvor in ihrem Leben: »Es ist wichtig, dass wir darüber etwas wissen.«

Die Ausstellung in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Stauffenbergstr. 13-14, 10785 Berlin, ist Montag bis Mittwoch sowie Freitag von 9 bis 18 Uhr, Donnerstag 9 bis 20 Uhr und Samstag/Sonntag von 10 bis 18 Uhr geöffnet, Eintritt frei.

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