• Kultur
  • Beilage zur Leipziger Buchmesse

Die zwei Großväter

KRIEGSGEFANGENE

  • Hans Rehfeldt
  • Lesedauer: 3 Min.

Mit dieser Neuerscheinung dokumentiert ein Rechtswissenschaftler und Journalist den verbrecherischen Angriff Nazideutschlands gegen die Sowjetunion und dessen furchtbare Folgen für beide Seiten. Angesichts der vorherrschenden Darstellung deutscher Kriegsgefangenenschicksale in der Sowjetunion befasst sich Ernst Reuß gründlich mit dem menschenverachtenden Umgang der SS und der Wehrmacht mit Sowjetbürgern, die unter deutsche Herrschaft gerieten.

Rund 5,7 Millionen Sowjetsoldaten befanden sich während des Krieges in deutscher Gefangenschaft. Über die Hälfte von ihnen (3,3 Millionen) ist in den Lagern regelrecht verhungert oder auf andere Weise brutal umgebracht worden. Hunger war Todesursache Nr. 1. So gab es in einem Lager bei Zeithain speziell hergestelltes »Russenbrot« für die Gefangenen, das zu 50 Prozent aus Viehfutter wie Roggenschrot, zu je 20 Prozent aus Rübenschnitzeln und Zellmehl sowie zu zehn Prozent aus Strohmehl oder sogar aus Laub bestand. Im so genannten Stalag (Stammlager) 350 in der Nähe von Riga bestand die Ernährung der gefangenen »Russen« aus 180 Gramm Brot, das zur Hälfte mit Sägespänen und mit Stroh vermengt war und einem Liter Suppe, die aus faulen ungesäuberten Kartoffeln bestand. (Etwa an gleicher Stelle, in Ogre bei Riga, befand sich nach der Vertreibung der Wehrmacht eine antifaschistische Schule für deutsche Kriegsgefangene).

Der furchtbare Hunger war grundsätzlich gewollt und nicht etwa auf organisatorische Überforderung zurückzuführen. Dies führte manchmal sogar zu verzweifeltem Kannibalismus an Verstorbenen, was von der deutschen Propaganda zynisch als Beweis für das »Untermenschentum der Bolschewisten« dargestellt wurde. Erst als sich die deutschen Verluste an der Ostfront und im »Reich« nicht mehr ausgleichen ließen, gab es hier und da Bemühungen, den massenhaften Tod sowjetischer Kriegsgefangener etwas einzudämmen. Man brauchte sie als Arbeitssklaven oder als Hiwis (Hilfswillige) in der Wehrmacht. Teilweise wurden sie in die Wlassow-Armee oder andere antisowjetische Truppenteile von Kubanern, Ukrainern oder Kosaken gepresst.

Nach den Juden waren die »Bolschewisten«, von der Herrenrasse als »Untermenschen« bezeichnet, diejenige Opfergruppe, die das schlimmste Schicksal durch Deutsche erleiden musste. Zudem wurden viele bedauernswerte Überlebende dieser Tortur, nach Kriegsende auch noch langjährig mit Zwangsarbeit in den Gulags oder nicht selten sogar durch Erschießung bestraft, denn laut Stalin-Befehl Nr. 270 vom 16. August 1941 war jeder, der in Gefangenschaft geriet, ein verachtenswerter Deserteur und Vaterlandsverräter.

Der Autor hat in seine Recherchen Erlebnisse und Reflexionen von zwei einfachen deutschen Soldaten eingeflochten. Er kam auf diese interessante Idee durch seine beiden Großväter.

Der eine war Besatzungssoldat in der Ukraine und berief sich immer darauf, dass er nur im Hinterland eingesetzt war. Die Recherchen seines Enkels besagen jedoch, dass er gerade dort, im Hinterland, von den Verbrechen Kenntnis gehabt haben muss. Der andere verlebte mehrere Jahre in sowjetischer Gefangenschaft. Hier spürte er die Not der Zivilbevölkerung, der es genauso schlecht, wenn nicht noch schlechter ging, wie den Gefangenen. Er begriff, was deutsche Schuld angerichtet hatte und kam als neuer Mensch und als Antifaschist 1949 wieder nach Hause.

Der Band enthält auch Erlebnisberichte sowjetischer Kriegsgefangener. Ein aussagekräftiges Kompendium, das viele Leser finden möge.

Ernst Reuß: Kriegsgefangen im 2. Weltkrieg. Wie Deutsche und Russen mit ihren Gegnern umgingen. Edition Ost, Berlin. 255 S., br., 14,95 €.

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