• Kultur
  • Beilage zur Leipziger Buchmesse

Ferne Nähe

LANDOLF SCHERZER wanderte durch vier Länder

  • Walter Kaufmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Als Landolf Scherzer bei der Rückkehr nach schier endlosen Fußmärschen durchs Ungarische, Kroatische, Serbische bis hin nach Rumänien der Frau eines Reiseunternehmens gesteht, er habe gegen ihren Rat auf rumänischen Feldern, in kroatischen Weinkellern, sogar bei serbischen Zigeunern geschlafen, schlägt sie die Hände überm Kopf zusammen und sagt: »Jesses Maria, da haben Sie aber Glück gehabt.»

In der Tat!

Was Scherzer sich zugemutet hatte, war nicht nur eine Mutprobe, es war auch eine Kraftprobe. Über staubige Landstraßen schleppte er sich dahin, bei strömendem Regen zwang er sich weiter, er strapazierte seine Beine, die Riemen des Rucksacks schnitten ihm ins Fleisch, den Rücken, schmerzten ihn – er gab nicht auf, setzte Fuß vor Fuß und immer geradeaus. Morgens wusste er nicht, wo er in der Nacht sein Haupt betten würde. Er musste eine Art gehabt haben, die ihm Türen öffnete – fast immer fand er eine Bleibe. Und Männer und Frauen, Burschen und Mädchen, Greise und Greisinnen, die ihre Erinnerungen vor ihm ausschütteten.

Das mache ihm einer nach, der Ungarisch nicht, nicht Kroatisch noch Serbisch spricht, auch nicht Rumänisch, der nur etwas Russisch beherrscht – und Deutsch natürlich. Scherzer verzagte nicht, oft musste ihm ein Minimum an Worten genügen, ebenso oft aber war die Verständigung gut. Wie auch immer, stets erfuhr er viel, Lebensschicksale taten sich ihm auf und die wechselvollen Schicksale der Orte, Landstriche, Länder, durch die er zog: Wie war es früher, wie ist es heute – Sozialismus gestern, Fluch oder Segen der neuen Zeit, und wie hatte sich die Zersplitterung Jugoslawiens auf die Bevölkerung ausgewirkt, das Unheil all der Kriege, Mord und Massaker und NATO·-Bomben? Auch wenn Scherzer Historisches einblendet, er zwingt keinem seine Meinung auf. Der Leser soll sie sich selbst formen, aus dem, was er durch ihn erfährt, durch ihn zu hören bekommt, durch seine Augen wahrnimmt. Das ist viel. Scherzer versteht ein Ganzes aus einer Fülle von Details zu formen – nichts entgeht ihm, er sieht, was andere übersehen: ein blaues Dixi-Klo vor einem mächtigen Zementsilo, ein verlassenes Haus am Wegrand (warum verlassen? Scherzer findet es heraus), ein Stacheldrahtzaun vor einem Friedhof – den wird er sein Lebtag nicht vergessen. Denn vor diesem Zaun machte er Rast, als er überfallen, ihm sein Rucksack mit all seiner Habe geraubt wurde – Geld und Pass und sämtliche Notizen (für ihn wohl der schmerzlichste Verlust.) Und dann ... genug! Man durchlebe selbst, wie Scherzer sich fühlte, als die bösesten Prophezeiungen wahr geworden waren – zieh nicht allein durch die Lande, sieh dich vor, trau nicht jedem. Oh ja, der Leser wird nachvollziehen, wie es sich anmutet, wenn das Abenteuer ein jähes Ende nimmt und nichts mehr zu gehen scheint. Und beeindrucken wird ihn das Stehvermögen eines Mannes, der sich in den Arm beißt, um nicht aufzuschreien, sich schließlich aufrafft und weiter zieht, weiter und weiter – immer geradeaus.

Womit wir wieder bei dem Titel dieses Erlebnisberichts von bestechend schöner, ruhiger Prosa wären, einem Scherzer-Buch eben, das voller Geschichten ist, abenteuerlichen, besinnlichen, romantischen, auch hasserfüllten und bösen, und welches Einblicke gibt in eine Welt, die geografisch nicht allzu weit ist – und doch für die meisten von uns sehr fern.

Landolf Scherzer: Immer geradeaus. Aufbau Verlag. 303 S., geb., 19,95 €

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