• Kultur
  • Beilage zur Leipziger Buchmesse

Das dritte Auge

ULRIKE ALMUT SANDIG kennt Abgründe

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

»Flamingos stehen in Gruppen, aber jeder Einzelne ist allein.«
Ulrike Almut Sandig

Es war schon erstaunlich, wie Dorothea Kupic aus der Erzählung »Damespiel« sich plötzlich mit Vorgängen in aller Welt verbunden fühlte, von denen sie keine Ahnung haben konnte. Noch erstaunlicher war, was sich auf ihrer Stirn vollzog. Im Spiegel konnte sie zusehen, wie sich ein Auge bildete. »O Gottogott« – das musste sie verstecken ...

Wie schnell man zum Außenseiter wird, wenn man es nicht schon ist. Einfach durch Blindheit, wie es Iris' Freundin Anja geht (»Mutabor«), oder weil man von jenseits der Elbe kommt (»Dreitausend Blauwale«). Durch eine große unerfüllte Liebe (»Kuba«) oder durch die besondere Gabe, mit zwei Stimmen singen zu können, vielleicht sogar aus zwei Personen zu bestehen (»Hush little Baby«). Sucht man die Geschichten von Ulrike Almut Sandig auf einen Nenner zu bringen – was man nicht kann –, so handeln sie von der Erfahrung des Anders-Seins. Wobei einem einmal mehr bewusst wird, dass jeder Mensch anders ist und die eigene Wahrnehmung notgedrungen mangelhaft, wenn sie einordnet, deutet um leichterer Orientierung willen. Diese Texte wollen, dass man sie still auf sich wirken lässt – sich an dieses und jenes erinnert, träumt wie beim Hören von Musik. Dass man sich nur das herausnimmt, was einem zu eigen werden kann.

»Die Geburt einer Erzählerin«, jubelt der Verlag. Dabei hat die 1979 geborene Leipziger Autorin schon mehrere Auszeichnungen für ihre Lyrik bekommen, zuletzt den renommierten Leonce-und-Lena-Preis. »Vielleicht ist das die Verführung, die von ihnen ausgeht, daß sie nicht nur semantische Leerstellen bezeichnen, sondern im Bezeichneten neue Leerstellen schaffen und somit Erkenntnis und Infragestellung eins werden lassen«, schrieb Kurt Drawert über ihre Gedichte. Voller solcher Leerstellen ist auch Sandigs Prosa, die kunstvoll ist und nichts Gekünsteltes hat. Jedes Wort mit Bedacht gesetzt und dabei von beneidenswerter Leichtigkeit.

Eine junge Frau, die am Anfang ihres Lebensweges steht und doch schon viel durchlebt, durchdacht hat. Schweres, Trauriges, will es scheinen; es gibt einen Schmerzpunkt, sie hat in Abgründe gesehen. Aber das wird sie nicht benennen, so gleichzeitig offen und verschlossen wie sie ist. In ihren Geschichten, sagt sie an einer Stelle, sei sie »das Loch in der Mitte, ich bin die Tonlosigkeit in den Atemzügen desjenigen, der sie Ihnen vorlesen wird, oder vielleicht bin ich auch der Abstand zwischen den Wörtern, die Sie selbst lesen werden, und das ist doch schon was«.

»Es hatte etwas mit der Zeit zu tun. Mit der Zeit, die in rasender Geschwindigkeit verstrich ...« Dennoch kann man in jedem Augenblick ertrinken, »fünfundzwanzig Träume« leben, während kaum Zeit vergeht. Stürzen und fliegen, fliegen und stürzen. Immer wieder geschieht das in diesen Texten. Eine Freundin gerät unter ein Auto, ein Bruder liegt aus eben diesem Grunde im Sarg, ein Sohn stirbt beinahe allein in Hunger und Kälte, ein anderer lässt sich von einer Brücke wehen. Eine Schwester verweigert das Essen ...

Ach, wäre einem doch so ein drittes Auge gewachsen – nicht um in Weltenfernen, sondern im ganz Nahen besser zu sehen, was da Bedrohliches ist, was man vielleicht hätte abwenden können ...

Ulrike Almut Sandig: Flamingos. Erzählungen. Schöffling & Co. 108 S., geb., 17,90 €

Siehe auch: Dossier Literaturbeilage Buchmesse Leipzig

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