Gottlose Jahre? – Nein!

Kirche und Staatssicherheit – eine Revision gängiger Verurteilungsmuster

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 5 Min.

Wozu brauchen wir, so fragt Ludwig Große, trotz der Fülle bereits vorliegender Aufarbeitungen über das Wirken des MfS gegen die evangelischen Kirchen in der DDR eine weitere Untersuchung zum Verhältnis beider Institutionen anhand der MfS-Akten? Damit spricht er für viele Menschen, nicht nur kirchenferne. Zumal viele frühe Thesen – wie die durch den aus Wiesbaden stammenden und heute für DIE LINKE im sächsischen Landtag sitzenden Theologen Gerhard Besier (»Der SED-Staat und die Kirche. Der Weg in die Anpassung«, München 1993) behauptete »Verstrickung« großer Teile (und Persönlichkeiten) der evangelischen Kirchen der DDR, besonders der Thüringer Kirche – nur noch variiert wiederholt werden. Große nennt hier vor allem Ehrhart Neubert (»Kirche und Stasi in Thüringen«) und Götz Planer-Friedrich (»Einfallstore für die Stasi. Der Thüringer Weg systemkonformer Kirchenpolitik«). Es sei geradezu »Mode« geworden, so Große, die »als angeworben Geführten« einer gesellschaftlichen Ächtung auszusetzen – mit zum Teil verheerenden Folgen für die Betroffenen und ihre Familien.

Der ehemalige Thüringer Pfarrer, Superintendent in Saalfeld, Synodaler und Ausbildungsdezernent der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen legt Einspruch ein: Vorsicht, keine vorschnelle und womöglich falsche Verurteilung! Er polemisiert nicht, sondern versucht, sachlich zu klären. Dass er bei diesem Thema nicht emotionslos bleiben kann, liegt auf der Hand, zumal er selbst mit seiner Familie jahrzehntelang beobachtet, bespitzelt und unter Druck gesetzt worden ist. Doch Große verstand und versteht sich vor allem als Christ und Verantwortlicher einer lebendigen Kirchengemeinschaft in sehr schwierigen, aber – wie er sagt – keinesfalls gottlosen Jahren. Damit spricht er für die vielen Menschen, die jahrzehntelang, wo und wie auch immer, Druck durch die Staatssicherheit ausgesetzt waren und sich trotzdem nicht kaufen ließen. »Wer in der DDR – ganz gleich wo und wann! – das Wort nahm, musste damit rechnen, dass die Stasi mithört oder dass er sie direkt anspricht ... wir hatten und haben (!!!) um der uns anvertrauten Menschen willen die Fehde mit der staatliche Macht aufzunehmen, die wir vorfinden. Sie zu verändern mag uns als Hoffnung immer begleitet haben.«

Auch dieses Buch macht deutlich, wie engmaschig das Netz der Bespitzelung, Erpressung und Überwachung gesponnen war und sich in dieser Irrwitzigkeit letztendlich selbst ad absurdum geführt hat. »Wir haben mit der Angst gearbeitet – mit Angst, Angst, Angst und nochmals Angst«, hat ein ehemaliger MfS-Mitarbeiter dem Autor gegenüber in einem vertraulichen Gespräch 2008 geäußert.

Das Buch ist in Absprache mit der Friedrich Schiller Universität Jena entstanden. Der Forschungsauftrag lautete, die Einflussversuche des MfS auf die thüringische Landeskirche und über sie auf Organe des Bundes exemplarisch zu prüfen und zugleich »aus hermeneutischer Sicht« zu erörtern. Im Vergleich gegensätzlicher Überlieferungen wird der Frage nach gefälschter Geschichte und historischer Wirklichkeit nachgegangen. Als Mittlerfunktion (abgeleitet von Hermes, dem Boten oder Mittler) ist Hermeneutik mehr als nur Auslegung, sondern im historischen Sinn wegweisend dafür, durch Einsicht (im doppelten Sinn) und Verständnis der Ereignisse und der Handlungen jedes einzelnen Menschen (»Von Fall zu Fall« heißt ein Kapitel) zu Klarheit zu kommen. Für einen ehrlichen und menschenwürdigen Umgang miteinander sein – ohne Missbrauch für politische Interessen, denen noch immer Menschen durch Rufmord geopfert werden.

Nun zum »Sonderfall Kirche«, einem »entscheidenden Kampfplatz in der Auseinandersetzung mit subversiven Angriffen des Gegners«, wie Große aus einer »operativen Fachschulung« der Juristischen Hochschule des MfS im Mai 1984 zitiert. Dass Kirche bzw. die evangelischen Landeskirchen in der DDR (samt jedem einzelnen Christen) besonders im Visier der Staatssicherheit waren, ist nichts Neues. Viele haben ihre eigenen »Fallbeispiele«. Auf gravierende politische und kirchenpolitische Ereignisse wie die rigorose Einführung der Jungendweihe (mit Bekenntnis zum Atheismus), den Mauerbau, den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei, die Selbstverbrennung von Pfarrer Brüsewitz oder die Einführung des Wehrkundeunterrichts in den Schulen haben die Leitungen der verschiedenen Landeskirchen unterschiedlich, abwägend, aber fast immer in Übereinstimmung reagiert, nie gegeneinander.

Große widerlegt die immer wieder behauptete These von einem »Thüringer Sonderweg«. Staatsorgane, MfS und CDU, so Große, lancierten diesen Begriff bewusst in die Öffentlichkeit und versuchten durch verheißene Sonderrechte zu spalten. Dies gelang nicht. Den Sonderfall des Oberkirchenrates Gerhard Lotz, Leiter der Rechtsabteilung im Thüringer Landeskirchenamt, behandelt er in einem eigenen Kapitel. Nachzulesen ist hier auch viel über den damals in Thüringen ausgesprochen beliebten Bischof Moritz Mitzenheim, der so manche eigenwillige Entscheidung traf, aber nie im Sinne einer Kirchenspaltung agierte.

Ein besonders prekäres Ereignis, dem der Verfasser genau nachgeht, war die Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR 1969. Das MfS schrieb sich diese »Trennung« von der EKD als Sieg auf die Fahne. Sie war aber, so Große, notwendig »als rechtswirksame Gestalt gegenüber ihrem militant atheistischen Umfeld«. Die DDR-Kirchen sprachen hier für sich selbst. Wir Theologen in Thüringen, will ich hier einfügen, sahen das zum größten Teil damals auch so.

Interessant sind die Recherchen über die Personen »in Spitzenpositionen«, allen voran die Bischöfe. Große belegt, dass der als »IM Ingo« und dann als »IMV« registrierte (spätere) Bischof Ingo Braecklein zum Teil zu unfreiwilligen Gesprächen gezwungen wurde und dass, den Akten nach, »eine regelmäßige Zusammenarbeit nie zustande kam«. Da gerade in diesem Fall vorschnell öffentlich verurteilt wurde, ist Braecklein nach der »Wende«, etwa von »Spiegel«-Reportern, schlimm geschmäht worden. Es ist gut, hierzu wie zu vielen anderen Fällen Klärendes zu lesen. Aufschlussreich ist auch die Darstellung der Lebenswege »kleiner Leute«. Gelang die Anwerbung von Ingenieuren, Brigadieren, Krankenschwestern usw. nicht, dann wurde mitunter in Berichten gelogen und falsche Meldung gemacht. »Wer eigentlich ist anzuklagen?«, fragt Große, »das Erpressungskartell oder die Erpressten?«

Verdienstvollerweise erinnert Große mit dem »Prolog« an das wichtigste Symbol damals, das vom Mut vieler Menschen noch heute kündet: das Friedenssymbol »Schwerter zu Pflugscharen«.

Ludwig Große: Einspruch! Das Verhältnis von Kirche und Staatssicherheit im Spiegel gegensätzlicher Überlieferungen. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig. 776 S., geb., 38 €.

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