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Systematische Verletzung

Buch und Wanderausstellung über das Landesfürsorgeheim in Glückstadt

  • Dieter Hanisch, Kiel
  • Lesedauer: 3 Min.
»Die Menschenwürde der jungen Menschen, die zum Zwecke der Erziehung in das Landesfürsorgeheim eingewiesen worden sind, ist nicht nur in Einzelfällen, sondern systematisch verletzt worden.« Zu diesem Schluss kommt Pädagoge Christian Schrapper nach Aufarbeitung der Geschehnisse um das Landesfürsorgeheim in Glückstadt.
Begegnung mit der Vergangenheit: Rolf Breitfeld verbrachte selbst zwei Jahre im Landesfürsorgeheim Glückstadt.
Begegnung mit der Vergangenheit: Rolf Breitfeld verbrachte selbst zwei Jahre im Landesfürsorgeheim Glückstadt.

Nachdem sich vor drei Jahren ehemalige Heiminsassen erstmals mit schweren Vorwürfen über die Praktiken im Alltag der geschlossenen Erziehungseinrichtung zu Wort gemeldet hatten, bestätigt eine von Schrapper zusammengestellte wissenschaftliche Arbeit, aus der ein jetzt veröffentlichtes Buch und eine Wanderausstellung entstanden, größtenteils die Schilderungen der früheren Heimkinder. Mindestens viermal waren die Zustände in Glückstadt so in Misskredit geraten, dass eine Schließung von den Verantwortlichen diskutiert wurde. Dabei blieb es allerdings auch – vollzogen wurde der Schlussstrich erst zum 31. Dezember 1974 aufgrund mangelnder Belegung und dadurch fehlender Wirtschaftlichkeit.

Hatte sich in der vergangenen Legislaturperiode die damalige Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD) bereits bei den Heiminsassen entschuldigt, tat dies bei Eröffnung der Ausstellung »Für. Sorge. Erziehung« auch ihr jetziger Nachfolger Heiner Garg (FDP). Trauernicht, jetzt in der Rolle als Landtagsvizepräsidentin, wurde dazu deutlicher. Man dürfe die Reaktion von den verantwortlichen Stellen »nicht auf eine bloße Entschuldigung reduzieren«. Sie nahm mit Blick auf den in Berlin unter Vorsitz der früheren Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje Vollmer, tagenden Runden Tischs zur Heimerziehung das Wort einer Entschädigung aber nicht in den Mund.

Dies tat dafür ohne Umschweife Rolf Breitfeld. Der heute 62-jährige Berliner verbrachte von 1965 bis 1967 einen Teil seiner Jugend im Landesfürsorgeheim Glückstadt und ist regelmäßiger Begleiter der Runden Tische mit Vollmer. Er war einer derjenigen, die zu den Vorgängen in Glückstadt unermüdlich recherchierten und sich nun bestätigt sieht, dass auch Schrapper von Zwangsarbeit spricht, die in Glückstadt verrichtet werden musste. Diesen nationalsozialistisch behafteten Begriff hatte der Berliner Runde Tisch bisher immer auszublenden versucht, obwohl bekanntermaßen auch andernorts Arbeitsdienste von Heimbewohnern verlangt wurden, deren Verweigerung in der Regel Strafsanktionen nach sich zogen.

Breitfeld wies auf die unsägliche Kontinuität der Glückstädter Einrichtung mit Betrachtung auf die NS-Zeit hin, aber auch darauf, dass mehrere politische Verantwortungsträger im Kieler Landtag und in der Kieler Landesregierung über eine nationalsozialistische Vita verfügten. Vor Inbetriebnahme als Landesfürsorgeheim wurde das Gebäude am Jungfernstieg als Landesarbeitsanstalt genutzt.

Das Personal wurde anschließend für die Heimbetreuung überwiegend weiterbeschäftigt, obwohl keinerlei fachliche Qualifikation vorhanden war. In rund 8000 Akten aus dem Landesarchiv Schleswig, aus Landtagsprotokollen, früheren Zeitungsberichten und persönlichen Einlassungen, die dem Buch und der Ausstellung zugrunde liegen, tauchten auch Schilderungen auf, die den Status von Glückstadt mit schleswig-holsteinischen Strafanstalten auf eine Stufe stellten.

Während die neben Schrapper als Buch-Herausgeberin fungierende Irene Johns, Vorsitzende des Kinderschutzbundes Schleswig-Holstein, noch einmal an die öffentlichen Debatten zu Glückstadt in der Landespolitik erinnerte, wies der Pädagogik-Professor auf den wirtschaftlichen Faktor der Einrichtung hin, für die eigens 1969 nach einer Revolte, einem Suizid und mehreren Selbstmordversuchen ein Werbeprospekt mit gestellten Fotos in Auftrag gegeben wurde, weil die Belegungszahlen zurückgingen. Dabei wurden auch die sich im Keller befindlichen Einzelzellen abgelichtet, die bereits unter NS-Herrschaft als Schutzhafträume dienten. Im Buch heißt es über die Einrichtung, diese habe eine »… in Personal, Gebäude und zuständiger ministerieller Aufsicht tief verwurzelte Tradition einer Bewahranstalt.«

Die Aufarbeitung lebt natürlich von den persönlichen Erzählungen und den zugänglichen Quellen. Umgekehrt werden auch Lücken deutlich, doch Schrapper und Johns geht es nicht um eine wissenschaftliche Schlussdebatte, im Gegenteil: »Wenn zu einzelnen Aspekten noch Ausarbeitungen, etwa Dissertationen, folgen, wäre das nur konsequent«, sagt der Koblenzer, der Glückstadt nur als Beispiel für die allgemein praktizierte »schwarze Pädagogik« in der Nachkriegszeit bis weit hinein in die 70er Jahre ansieht.

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