Das Lumpenproletariat schlug zurück

»Nach Moskau! Nach Moskau!« von Frank Castorf beim Tschechow-Festival in Russlands Hauptstadt

  • Thomas Irmer, Moskau
  • Lesedauer: 4 Min.
Das Lumpenproletariat schlug zurück

Was für eine unruhige Nacht!« Als dieser Satz nach zweieinhalb Stunden, kurz vor der Pause, im Mossowjet-Theater fällt, gibt es Szenenapplaus.

Der Selbstkommentar von Frank Castorfs Interpretation der »Drei Schwestern« zur Eröffnung des Internationalen Tschechow-Festivals gilt tatsächlich der allbekannten Welt der Generalstöchter, die sich aus der Provinz am Ural nach Moskau zurücksehnen. Denn in diese hat Castorf eine von Tschechows weniger bekannten, düsteren Erzählungen montiert und szenisch aufbereitet. »Die Bauern« handelt von der Rückkehr einer Familie in ein verkommenes Dorf, nachdem der Vater seinen Job als Kellner im Hotel »Slawischer Basar« aufgeben musste und das Leben in der Stadt zu teuer wurde.

Kurz: Die einen sehnen sich immer nach Moskau, die anderen kommen gerade von dort. Erstere empfangen Offiziere im Salon, Letztere finden sich im Landlumpenproletariat wieder. In beiden Geschichten gibt es einen nächtlichen Brand als katastrophischen Hintergrund.

Bert Neumanns Bühne setzt beide Schauplätze beziehungsreich nebeneinander: Rechts die gezimmerte Veranda, links ein schon auseinanderfallendes Holzhäuschen, aus dem die Rohheiten der Mushiks per Live-Video auf eine grobgerasterte LED-Tafel übertragen werden. Und darüber beziehungsweise dahinter der schöne russische Birkenwald. Nicht wie bei seinerzeit Peter Stein in beinahe echt, sondern grob: nur auf eine Plane projiziert.

Erwartungsgemäß setzt sich Castorf mit der Rezeptionsgeschichte auseinander, speziell sogar mit der langen Nachwirkung von Tschechows Uraufführungsregisseur Stanislawski, dessen psychologische Einfühlung in abgerundete Figuren das ganze Gegenteil von Castorfs Schauspielmethode ist.

Für die Besetzung hat er einen Teil seiner legendären family zusammengebracht. Kathrin Angerer spielt die ungeliebte Schwägerin Natascha, die sich vom Landei zur bio-bewussten Überfürsorglichkeitsmutter mit wenig Interesse für die Nöte anderer aufschwingt. Am Ende – der vierte Akt wurde selten so ausführlich auserzählt und weitergesponnen – hält sie sich sogar für eine Zarin. Silvia Rieger (Olga), Jeannette Spassova (Mascha) und Maria Kwiatkowski (Irina) drohen da auch in den Wahnsinn abzudriften, wenn sie wie drei schwarzgewandete Furien immer wieder den berühmten Schluss-Satz herausschreien: »Wenn man es nur wüsste!« Da hat sich der leicht slapstickhaft angelegte Werschinin Milan Peschels wohlweislich aus dem Staub gemacht. Ein schönes Wiedersehen außerdem mit Bernhard Schütz als Tschebutykin, der seine Probleme mit Tusenbach hat. Lars Rudolph kann beim russischen Publikum punkten, wenn er diesem versichert, dass er zwar einen deutschen Namen habe, aber garantiert kein Deutscher sei.

Überhaupt ist die Stimmung zunächst recht heiter. Die Inszenierung lädt sich erst auf, als das Spiel vom Salon in die Gosse wechselt. Hier hat Trystan Pütter (im Parallelstück der glücklose Spieler Andrej) Lenin und Stalin auf der Brust tätowiert (im Gulag bei Kriminellen ein beliebtes Motiv), und Bernhard Schütz terrorisiert als ebenfalls üppig tätowierter Ossip alle Unterschichtler mit einer roten Fahne.

So erhält der Abend seine These nach Heiner Müller: »Dass Marx und Engels das Lumpenproletariat aus der revolutionären Bewegung ausgegrenzt haben, war die Grundlage der stalinistischen Perversion.« Das in Moskau so vortragen zu lassen, ist kühn und etwas anachronistisch zugleich, denn die einzige revolutionäre Bewegung heute ist das Kapital, und das grenzt das Lumpenproletariat aus, ohne darüber eine Entscheidung treffen zu müssen. Für das Publikum war ein solches Einsprengsel spürbar eine Überraschung. Eine solche Montage würden sich russische Regisseure, die mit Tschechow auch schon alles mögliche gemacht haben, jedenfalls nicht wagen.

Von Tschechows Erzählung gibt es eine nur in der Gesamtausgabe vorliegende erweiterte Fassung, in der die Witwe mit der minderjährigen Tochter Sascha (Maria Kwiatkowski) nach Moskau zurückkehrt. Dort wird Sascha nur als Prosituierte überleben. Castorf setzt diese »Ergänzung« neben den ausfabulierten vierten Akt – und kommt damit irgendwie in der Gegenwart an: Die einen sorgen sich um Bio-Produkte für ihre Kinder, die anderen haben Kinder, die anschaffen gehen müssen.

Wie immer war die Premiere der erste geschlossene Durchlauf, und auf dem Weg zu den Wiener Festwochen werden wohl einige Akzente und auch schauspielerische Kabinettstückchen noch stärker ausgearbeitet werden. Auf jeden Fall hat Castorf seine russische Linie von Sorokin, Dostojewski und Bulgakow nach längerer Pause mit einer wichtigen Arbeit fortgesetzt.

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