Rebell, Fürstendiener

Wer war Friedrich Leopold Stolberg? Antworten in Eutin

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 4 Min.
Rebell, Fürstendiener

Dreihundertfünfzig Stunden sind sie schon unterwegs, immer zu Fuß, quer durchs Land, sie sind durch Täler gewandert, über Felsen geklettert, haben an Seen gestanden und fruchtbare Gegenden gesehen, in denen Elend und Tyrannei herrschen, aber auch, »welch ein Kontrast«, die kleinen demokratischen Kantone, und nun berichten sie in einem Brief vom 11. Oktober 1775 von ihren Tagen in der Schweiz. Sie sind Brüder, Christian und Friedrich Leopold Stolberg, Reichsgrafen beide, wild, rebellisch, sie sprechen mit einer Stimme.

Eines Tages sind sie beim jungen Goethe in Frankfurt erschienen, Mutter Aja hat den besten Wein aus dem Keller geholt (den Fritz Stolberg gleich »Tyrannenblut« tauft), und dann sind sie zusammen aufgebrochen, dorthin, wo sie die Freiheit wissen. Sie sind der Schrecken der braven Bürger, allesamt, in Werther-Kleidung ziehen sie umher, sie fluchen, wie Goethe seinen Götz von Berlichingen fluchen lässt, sie springen nackt in Teiche und Gewässer, sie trinken und lärmen, und Goethe dichtet: »Ohne Wein und ohne Weiber / Hohl der Teufel unsre Leiber.«

Die Brüder Stolberg dichten auch, freilich nicht so gut wie Goethe. Friedrich Leopold, der Jüngere, geboren 1750, hat außerdem Homer ins Deutsche gebracht. Manche behaupten, seine Übersetzung sei besser als die seines Freundes Johann Heinrich Voß. Heute kennt man ihn kaum noch. Der Name eingesargt in Lexika und Literaturgeschichten, ein Stürmer und Dränger wie Goethe, Schiller, Lenz und Klinger, ein paar Daten und Buchtitel, aber sonst keine Spur. Man muss nach Eutin pilgern, um ihn zu finden und ihm näher zu kommen.

Dort, im Ostholstein-Museum am Schlossplatz, wird der »Standesherr wider den Zeitgeist« gerade in einer schönen, reichbestückten Ausstellung vorgestellt. Konzipiert von Frank Baudach und Ute Pott (in Zusammenarbeit mit Dirk Hempel) und realisiert von der Eutiner Landesbibliothek und dem Gleimhaus in Halberstadt, ist hier zum ersten Mal ausgebreitet, was zwei Sammlungen, die die Bibliothek 2006 und 2007 erwerben konnte, an einzigartigen Stücken bieten, durch Leihgaben noch ergänzt: Porträts, Gemälde, Briefe, Manuskripte, Buchausgaben.

Ein vielseitiger Mann, dieser Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Poet, Übersetzer, Diplomat, Gesandter, Kammerpräsident. Er beginnt als Rebell und Tyrannenfeind, er preist das Ungebundensein, schreibt Verse gegen die Knechtschaft, Oden nach dem Vorbild Klopstocks, volkstümliche Balladen, Strophen, die pathetisch und schwärmend die Natur feiern (»Süße, heilige Natur,/Laß mich gehn auf deiner Spur!«). Die Freunde, die sich um ihn sammeln, die Dichter vom »Göttinger Hain«, sind froh und stolz, einen solchen Kerl an ihrer Seite zu haben, einen leibhaftigen Reichsgrafen, einen mit familiären Verbindungen zu namhaften Adelshäusern. Doch die Freundschaften dauern nicht ewig. Eines Tages im Sommer 1800 beendet Stolberg seine siebenjährige Tätigkeit als Kammerpräsident in Eutin, zieht nach Westfalen und tritt in Münster zum Katholizismus über. Der Entschluss erregt erhebliches Aufsehen, und einer der engsten und treuesten Mitstreiter, die er hatte, Johann Heinrich Voß, der ihn begeistert einen »Freiheitsrufer« nannte, verfasst eine Streitschrift mit dem Titel »Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier?«

Die einstigen Freunde stehen an entgegengesetzten Ufern. Voß, noch immer Sympathisant der Französischen Revolution, erklärt: »Nicht länger darf Wehmut um einen Jugendfreund mich überwältigen«, um Stolberg dann zornig vorzuwerfen, dass er den Lockungen der römischen Hierarchie verfiel und sich in den Dienst »einer hinraffenden Geistespest« stellt. Die Standpunkte unvereinbar. Stolberg nun weit vom Aufruhr der Jugendtage entfernt, Gegner des anfangs noch begrüßten französischen Umbruchs, inzwischen mit dem Absolutismus einigermaßen versöhnt, mehr und mehr auf dogmatische Glaubenswahrheiten fixiert. Jetzt werden keine Freiheitsgesänge mehr geschrieben, sondern religiöse Erbauungsschriften.

Hier, in dieser Ausstellung, sieht man das alles so anschaulich wie noch nie: die Herkunft, Stolberg als Ehemann und Vater, die frühen Freundschaften, den Dichter und Übersetzer, den Amtmann und Regierungspräsidenten, der über die stupide Verwaltungsarbeit klagt, den Christen und Fürstendiener mit seinen Konflikten und seinem Einsatz für Reformen.

Welch eine Lebensspanne. Am Anfang die Verszeile: »Freiheit! Der Höfling kennt den Gedanken nicht …«, zuletzt, noch kurz vor seinem Tod Ende 1819 verfasst, eine Schrift gegen Voß, die Absage an die Vernunft, die Aufklärung. Ein Dasein zwischen Revolte und Anpassung, in der Eutiner Schau wunderbar und übersichtlich dokumentiert. Die Initiatoren haben sich große Mühe gegeben, den weithin unbekannten Stolberg ins Licht zu holen. Man kann ihren Einsatz und das Resultat nur bewundern. Stolberg ist in Eutin zurück, und das ist durchaus eine Reise wert. Wem der Weg in den Norden jedoch zu weit ist, der hat später Gelegenheit, die Ausstellung in Halberstadt zu betrachten. Oder danach, allerdings in reduzierter Fassung, im schleswig-holsteinischen Schloss Ahrensburg.

Goethe hat seiner Schweiz-Reise mit den Stolberg-Brüdern in »Dichtung und Wahrheit« viele Seiten gewidmet. Jetzt, im Alter, sieht er die Freunde von damals etwas kritischer. Das Feuer von 1775 erlosch ja längst. Der ganze Sturm und Drang ist ihm fremd geworden, eine schreckliche, peinliche Jugendsünde. Immerhin ist er sich sicher, dass das Andenken der Brüder »aus der deutschen Literatur- und Sittengeschichte sich nimmer verlieren wird«.

Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Standesherr wider den Zeitgeist. Bis 27. 6 im Ostholstein-Museum Eutin. Tgl. außer Mo. Vom 4. 7. bis 19. 8. im Gleimhaus Halberstadt, vom 16. 9. bis 10. 10. im Schloss Ahrensburg.

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