Fußball-WM 2010 (3): Einwürfe, Fußnoten

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

DIE DREI von der Schwachstelle. Der Brite Green, der Australier Schwarzer, der Algerier Chouachi. Drei Torhüter patzten, und die Welt hat es sich gemerkt. Gestern trat noch Paraguays Villar dem traurigen Klub bei.

Ein schwerer Torwartfehler wirkt wie eine Stempelung auf der Stirn. Man ist markiert für alle Gedächtnisse. Einem Feldspieler, der eine hochprozentige Torchance versiebt, geschieht dieser Pranger nicht. Deshalb betreibt der Torwart kein Mannschaftsspiel, er ist zwischen den Pfosten auf einsamem Posten. Auf dem Rücken die Nummer Eins: Der Erste beim Kassieren, der Erste beim Bezahlen. Er lebt im steten Verdacht des Versagens. Früher trug er, wie die Schiedsrichter, Schwarz. Die Einsamkeitsfarbe. Heute tröstet auch er sich mit farbigem Trikot über seine Isolation hinweg. Oder diese Buntheit ist raffinierte Notwehr, sie wirkt wie eine Signalfarbenpackung, die zieht erst den Blick an, dann den Ball – denn der Schütze will, unbewusst, ins Farbige schießen und vergisst womöglich, dass ein Tor zwei Ecken hat.

Torwart-Mythen. Moskaus Jaschin konnte sich auseinanderziehen wie Gummi; Zwickaus Croy war der kluge Sensible, Münchens Maier eine schnarrende Spiralfeder; Kolumbiens Clown Higuita tanzte aufreizend weit vorm Tor; Italiens Buffon (zur WM krank, mit geklemmtem Nerv): geschmeidig tiefernst, fast indianisch im Mühen um Mystik; Kölns Schumacher: vielleicht der härteste Keeper der Welt, wundenübersät, wundenschlagend; und natürlich Kahn, »die blonde Katze« (Albert Ostermaier), wutentschlossen, noch die Sonne aus ihrer Laufbahn zu fausten, wenn sie überm Stadion auftauchte. Und des Franzosen Barthez' Glatze gleißte allen Heranstürmenden entgegen: Hier, seht, ich hab den Ball schon.

Wer sich ins Tor stellt, stellt sich sehr speziell, schließt sich weg, setzt sich aus, holt sich im Kasten alle Enge der Welt auf den Pelz, um sie hechtend zu sprengen. Auf dass sich Angriffsketten in Einzelteile auflösen. Er befreit sich in – Umzingelung. Das ist ein Widerspruch, ist eitel, ist Masochismus, das ist, wie jedes Talent, ein Defekt, der diesen Typus aus der Menschenmitte trägt. Teleskop-Arme. Sprung-Gelenke wie Handgranaten. Die Schwerkraft nur ein Gerücht – von oben schauen die Engel der Welt (90 Minuten lang Schüler), wie man fliegen lernt.

Wer lebt schon freiwillig in einem Strafraum und wirft sich weg – von allen Seiten Schenkel wie Klappmesser! Seltsam, bei Torwartsituationen wird der Wortschatz sofort eiserne Metaphorik. Weil der Torhüter, wenn er einem Spieler entgegenstürzt, nie leichtes, fließendes, elegantes Spiel ausstrahlt; keine andere Situation als jene vorm Tor assoziiert Kampf, Gefahr, Verletzung.

Man muss besondere Frechheit besitzen, sich von Massen anschauen zu lassen, ohne Chance, so wie jeder andere Spieler, in einer kollektiven, also einer die Aufmerksamkeit verteilenden Bewegung aufzugehen. So, wie es Klaus Maria Brandauer für seinen Beruf formulierte: »Ich wurde nicht Schauspieler, um möglichst übersehen zu werden.« Im Tor will, muss man zum Helden werden. Green, Chouachi, Schwarzer, Villar machten jeweils nur einen einzigen, freilich folgenreichen Fehler. So oft sie sich in neunzig Minuten auszeichneten – sie sind bleibende Gezeichnete dieser WM. Helden der Verwundbarkeit.

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