Einwürfe, Fußnoten

Fußball-WM (17)

  • Lesedauer: 3 Min.

DIE SPANNUNG STEIGT derzeit schneller als jedes Gehalt. Na ja, immerhin etwas. Die WM geht heute weiter. Morgen mit dem Spiel der Deutschen gegen Argentinien, von dem wir höchlichst hoffen, es werde ein deutsches Spiel. Wie ist die Nacht?, fragt Brechts Galilei, und Tochter Virginia antwortet: Hell. Diese morgige Nacht wird hoffentlich laut. Und die Erde, Meister Galilei, ist tatsächlich eine Kugel. Aus Leder.

Sat.1 recherchierte, was unsere Spieler in den Spielpausen lesen. Sportbücher sind nicht darunter, vielleicht, weil man dann schnell auf wirkliche Dichtung stieße: Wondratschek, Walser, Marias, Galeano. Ostermaier, Esterházy, Camus. Und: Ror Wolf! Tolle Lektüre zwischen den Spielen. »Das nächste Spiel ist immer das schwerste« heißt die Sammlung von Wolf, dem Klassiker der Fußball-Literatur. Auf dem Cover läuft ein Fußballer auf nächtlichen Wolken, fahl erhellt von einem großen Mond, den der Spieler eben ins All schoss. Ein Gedicht über den Ball lässt Wolf enden: »Er steigt und schwebt und gleitet wie gewohnt:/ dort fliegt er, oben, schöner als der Mond.«

Fußball-Poet Wolf zeigt, dass sich um das »runde Leder« – diesen tückischen, abgetropften, abgefälschten, immer wieder aufs Tor gedroschenen und bei der derzeitigen WM so böse flatternden Ball – eine Menge brisanter literarischer Stoffe ansammeln lässt, die das Spiel ins Leben verlängern; alles arrangierte der Autor zu Hörspielen mit Reporterkommentaren, O-Tönen und Stadiongeräuschen, dann komponierte er Fußball-Bücher. Es entstanden witzig-makabre Zitat-Collagen, satirische Wortspiele, aber auch klassische Sonette und Stanzen. »Vom Betzenberg herab mit leerem Magen/ da kam Fritz Walter. Mehr ist nicht zu sagen.« Weltmeisterschaften hat Wolf mit Moritaten bedacht. Das berühmt-bittere Spiel im Wembley 1966: »Bei England platzten nun die letzten Knoten./ Und Deutschland warf sich fassungslos zu Boden.« Auch vor ein paar Tagen. Aus sehr anderem Grund.
Hans-Dieter Schütt


FÜR DIE WM sah eine Studie der Universität Wien die Steigerung der Scheidungsraten voraus; und unerwartet heftig sei die allgemeine Unverträglichkeit zwischen Fußballfans und -desinteressierten geworden. Die sich dem Sportrausch nicht hingeben können, haben offenbar den Gegenrausch erfunden: Mit jeder Stunde Fußball, der sie sich verweigern, festigen sie ihr Bewusstsein, nicht so irrational zu sein wie die Vielen. Man genießt so den Eigensinn, den man sich gegen die Masse bewahrt hat.

Deshalb wirkt jeder, der den Fußball nicht mag, in diesen aufgeregten Tagen von Südafrika überlegen wie jemand, der die Welt durchschaut hat. Das macht Fans zusätzlich angreifbar. Denn unsereins hängt an den dünnen Marionettenfäden der Illusion, das Leben sei ein wenig steigerbar; die Fußball-Fremden dagegen sehen uns aus der Sicht des Psychiaters. Sie registrieren uns gleichsam wie der Dichter Ernst Jünger seine Käfersammlung wahrnahm: »Wenn ich auf diese Wesen blicke, weiß ich, dass Gott auch uns mitleidig lächelnd beschaut, mit jenem Wohlwollen, das man kleinen Kindern schenkt, nicht ohne zugleich sein Erwachsensein mitzuteilen.«

Ernst Jünger war unzweifelhaft klug, wirkte aber in seiner überlegenen Vernunft auch empfindungslos wie ein steinerner Apoll. Anders gesagt: Er wirkte ein wenig langweilig – wie alle Menschen, die in eigener Befriedung ruhen und daher so sicher sind in der ungerührten Analyse des restlichen Getümmels.
Jan Helbig

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