»Ich bin frei«, sagt Bahar

Integrationsunwillige Muslime? – Ein Milieubericht

  • Nadja el-Baradei
  • Lesedauer: 5 Min.

Eine deutlich offensivere Einwanderungspolitik als bisher forderte diese Woche der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Klaus F. Zimmermann. Angesichts der Überalterung der Gesellschaft brauche Deutschland dringend Arbeitskräfte und Zuwanderer aus dem Ausland – und zwar mindestens 500 000 pro Jahr. Der Fachkräftemangel könnte ansonsten bereits in vier Jahren verheerende Folgen haben. Das sind ganz andere Töne, als man sie vom Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin hört.

In den 1950er Jahren hatte die Bundesrepublik mit Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, Marokko, Tunesien, Jugoslawien und der Türkei Anwerbungsverträge ausgehandelt, da der Bedarf an Arbeitskräften im Inland nicht mehr gedeckt werden konnte. Es sollten vor allem junge Menschen nach Deutschland vermittelt werden, die vorwiegend in der Metall-, Auto- und Baubranche arbeiten und nach einer gewissen Zeit in ihr Heimatland zurückkehren sollten.

Mit 2,5 Millionen Gastarbeitern war 1973 der vorläufige Höhepunkt erreicht; eine Wirtschaftskrise ließ die Bundesregierung einen Anwerbestopp verhängen. Nur noch der Nachzug enger Familienangehöriger war möglich. Lange Zeit war dann Ruhe in dieser Sache. Bis schließlich ein Politikwandel nötig war, »als Deutschland sich im Jahre 1999 offiziell dazu bekannte, ein Einwanderungsland zu sein, was bis dahin vor allem von konservativen Politikern strikt abgelehnt wurde«, wie Ahmet Toprak schreibt. »Da Deutschland offiziell bis 1999 kein Einwanderungsland war, stand auch die Migrationspolitik nicht unbedingt auf der Agenda der Bundesregierungen, sei es von der konservativ-liberalen Regierung von 1982 bis 1998 noch von Rot-Grün zwischen 1998 und 2005, auch wenn die Letztgenannten die Greencard-Regelung einführten und die Einbürgerung hier lebender Migranten erleichterten.« Das sollte sich rächen, viel zu spät etwa wurde die Stelle eines Ausländerbeauftragten bei der Bundesregierung geschaffen; die Islam-Konferenzen des Bundesinnenministerium sind bisher auch nur unbefriedigend verlaufend. Woran liegt es? An muslimischer Integrationsunwilligkeit?

In Deutschland leben ca. 3,5 Millionen Menschen mit muslimischer Herkunft. Der Großteil stammt aus der Türkei; die Älteren sind als Gastarbeiter in den 1960er und 1970er Jahren nach Deutschland gekommen, haben hier Familien gegründet, die nun bereits in dritter Generation bei uns leben.

Ahmet Toprak hat 124 angeblich »integrationsunwillige« Muslime im Alter von 15 bis 74 Jahren (darunter 71 Männer und 53 Frauen) in Berlin, Dortmund und München interviewt, sie zu Themen wie Kopftuch, Gewalt, Zwangsheirat und Ehrenmorde, zu Islamismus und Terrorismus sowie Männlichkeitswahn und Feminismus etc. befragt. Seine Propanden stammen aus eher ärmlichen, ländlichen Gebieten der Türkei, Syriens, Iraks und Libanons. Sie sind Schüler oder Studenten, Arbeiter oder Angestellte, erwerbslos bzw. Hausfrauen; neun der Interviewten haben einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss; 60 verfügen über keine abgeschlossene Berufsausbildung.

Bahar Aksoi, 23, Studentin der Rechtswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität, deren Eltern aus Zentralanatolien kommen, trägt Kopftuch – als einzige in der Familie. »Ihre Entscheidung wurde von ihren Eltern und Geschwistern zwar nicht verstanden, aber akzeptiert.« In der deutschen Öffentlichkeit wird das Kopftuch als Zeichen der Unterdrückung der Frau und der Desintegration der Muslime wahrgenommen. Das Beispiel von Bahar widerspricht dem. Selbstbewusst erklärt die junge Muslima: »In der Oberstufe bin ich auch mit dem Kopftuch in die Schule gegangen. Ich kann mich bewegen, ich bin frei, ich bin gut ausgebildet, kann sehr gut Deutsch in Wort und Schrift. Ich werde nach dem Studium einen Job finden, der mich erfüllt.«

Osman, 17, wird von seinem Vater und dem älteren Bruder beauftragt, seine »Lieblingsschwester« umzubringen, die ihren Mann verlassen hat, da er sie regelmäßig schlug. Und die auch nicht ins Elternhaus zurückkehren will, da ihr Vater gewalttätig ist und sie sexuell missbraucht hatte. Osmans Anschlag auf die Schwester misslingt; er wird zu einer zweijährigen Jugendstrafe wegen schwerer Körperverletzung verurteilt. Nach einem Gespräch mit der Schwester bricht er mit dem Vater und dem Bruder, die ihn zur Tat gedrängt haben. »Sie hat mir gesagt, warum sie nicht nach Hause kam. Ich war total baff. Ich konnte es erst gar nicht glauben ... Seitdem sind wir nicht nur Geschwister, sondern Freunde.« Osman hat übrigens die Hauptschule mit einem Notendurchschnitt von 1,7 abgeschlossen.

Abdullah, 41, Imam in Berlin, sagt über seine Gemeindemitglieder: »Eigentlich sind die meisten gegenüber Deutschland und der deutschen Gesellschaft sehr offen. Sie wollen sich auch integrieren. Aber aufgrund der Misserfolge im Bildungsbereich, auf dem Arbeitsmarkt oder bei Benachteiligungen im Alltag ziehen sich viele zurück. Sie schimpfen am Anfang auf Deutsche und die deutsche Politik. Das ist erst einmal harmlos. Aber einige werden doch radikaler gegenüber der deutschen Gesellschaft ... Und deren Zahl wächst leider in meiner Gemeinde.«

Interessant ist auch, was der Autor türkischer Herkunft, Jahrgang 1970 und Professor für Erziehungswissenschaften an der Fachhochschule Dortmund, über die vermutete Männerdominanz in muslimischen Familien herausfand. Männer würden zwar nach außen das Bild des starken Familienvaters oder Ehemanns abgeben, bei genauerer Betrachtung zeige sich jedoch, dass sie weniger Macht und Dominanz haben, als es nach außen hin scheint. Ahmet Toprak überrascht des Weiteren mit der Offenbarung, dass nur vier Prozent der muslimischen Bevölkerung Mitglieder eines herkunftsbezogenen Kulturvereins sind, die Moschee- und Kulturvereine also keineswegs so großen Einfluss haben wie gemeinhin angenommen wird. Auch weiß er, dass Integration mehr als das Beherrschen oder Nichtbeherrschen der deutschen Sprache beinhaltet. Und er konstatiert, dass Medien in Deutschland wie in den Herkunftsländern der Migranten nicht differenziert genug berichten. »Auf beiden Seiten werden Klischees und Vorurteile reproduziert statt die gesamte Bandbreite der Gesellschaft in den Blick zu nehmen.« Nicht zuletzt mahnt Ahmet Toprak, zu beachten, dass Islamismus und Islam zwei unterschiedliche, sogar gegensätzliche Begriffe sind.

Sein Fazit: Ein Großteil der muslimischen Migranten fühlt sich in Deutschland integriert und verbindet Integration in erster Linie mit sozialer und wirtschaftlicher Partizipation. »Die fehlende Integrationsbereitschaft in Teilen der muslimischen Gemeinde wird aus Sicht der Muslime primär mit destruktiven Grundbedingungen in Deutschland oder mit persönlichen Misserfolgen der Betroffenen begründet.«

Dies ist ein Buch, das sich auf akribische Recherchen und das Gespräch mit Betroffenen stützt, sich also nicht mit Behauptungen begnügt und somit wirklich konstruktive Hinweise zur Lösung von unbestreitbaren Integrationsproblemen offeriert.

Ahmet Toprak: Integrationsunwillige Muslime? Ein Milieubericht. Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau. 179 S., br., 20,90 €.

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