Vom Anschluss Undeutschlands

  • Otto Köhler
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Mitherausgeber der Zweiwochenschrift »Ossietzky« ist Träger des Kurt-Tucholsky-Preises.
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Das erschüttert uns alle im 20. Jahr deutscher Einheit: Matthias Platzeck, Brandenburgs Ministerpräsident, ist nach Erkenntnissen der bekannten Freiheitskämpferin Vera Lengsfeld von der »alten Propagandawerkstatt der umbenannten SED« infiziert. Er hat das Wort Anschluss in den Mund genommen und von Deindustrialisierung gesprochen. Die wahrheitsdurstige Vera, die schon 2009 auf ihrem CDU-Wahlplakat »mehr zu bieten« hatte, nämlich einen zur Freiheit drängenden Busen, ist empört. In der Preußischen Allgemeinen Zeitung – dem Blatt, das Erika Steinbach soufflierte, nicht Hitler, sondern Polen habe den Zweiten Weltkrieg begonnen – verkündet die alte Bürgerrechtlerin nichts als die Wahrheit: »Wer mit offenen Augen durch die neuen Länder fährt, sieht die versprochenen blühenden Landschaften.«

Verständlich, dass auch Hans-Peter Goetz, Ex-Fraktionschef der ehemaligen Blockpartei FDP, vorgestern im Potsdamer Landtag Alarm schlug, weil Platzeck das böse Wort gebraucht habe. Er kommt gerade von einem Treffen seiner Klasse in Kleinmachnow, wo er es erlebt hatte: »Alle sind in Deutschland angekommen.« Ja, wo kamen die denn her? Aus Undeutschland? Das jedenfalls ist sicher, so Goetz: »Der 3.Oktober 1990 war kein Tag, an dem über 60 Millionen böse Westdeutsche ein kleines Nachbarland genommen und ihrem großem Deutschland angeschlossen haben.«

Millionen nicht. Es gibt ein Buch über die – so der Titel – »Tage, die Deutschland und die Welt veränderten«. Herausgegeben vom damaligen Bonner Finanzminister Theo Waigel. Mitgeschrieben hatte ein Trio mit besonderer Aufgabe: Waigels Staatssekretär Horst Köhler sowie dessen Mitarbeiter Thilo Sarrazin und Gert Haller. Sie waren noch vor dem Weihnachtsfest 1989 vertraulich mit der Aufgabe betraut, alles für eine schnelle Beseitigung der DDR vorzubereiten. Gert Haller, der später Horst Köhler im Bundespräsidialamt als Freund und Staatssekretär diente: »Die weitreichenden Überlegungen, den Anschluss der DDR über den Artikel 23 des Grundgesetzes herzustellen, durfte man überhaupt nicht in den Mund nehmen.« Denn: »Das Wort ›Anschluss‹ war tabu, weil man befürchtete, mit solchen Vokabeln würde die Aufbruchsstimmung in der DDR massiv beeinträchtigt.« Und schon Mitte Januar 1990 begann dieses Trio infernale nachzudenken über ein »späteres Schlagwort vieler DDR-Bewohner« – die DM betreffend. Das schreibt Haller auf Seite 151 des von Waigel herausgegebenen Buches, das 1994, leider unbeachtet, im Bruckmannverlag erschienen ist – die Verlegerfamilie Bruckmann hatte den Anschlusskünstler Hitler schon Anfang der 20er Jahre in ihrem Salon gesellschaftsfähig gemacht.

Und Sarrazin – das wird aus seinem alten Buchbeitrag deutlich – hatte schon am 15. Januar 1990 unter Köhler mit großer Sorgfalt die Pläne zur Deindustrialisierung Ostdeutschlands ausgearbeitet. Vera Lengsfeld hat Recht: Von da an gab es im einstigen Machtbereich der SED »jede Menge in der DDR unbekanntes Obst«. Und ebenso exotische Bambusrohre. Auf Seite 97 zeigt das Waigel-Buch ein Foto mit dem scheinbar selbst gemalten Transparent: »Kommt die DM bleiben wir, kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr!« Befestigt an zwei soliden Bambusstangen. Kamen auch sie – wie das ganze schwarzrotgelbe Fahnenmeer, in dem die DDR ersäuft wurde – aus dem CDU-Hauptquartier in Bonn?

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