»Systemwechsel nötig«

Regelsätze für Hartz-IV-Bezieher sollen nur um fünf Euro steigen / Sozialrechtlerin Anne Lenze über die geringe Steigerung der Regelsätze

  • Lesedauer: 4 Min.
Professorin Dr. Anne Lenze lehrt Familien-, Jugend- und Sozialrecht an der Hochschule Darmstadt. Zudem ist sie Privatdozentin für öffentliches Recht, Sozial- und Europarecht an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Seit vielen Jahren gilt sie als Begleiterin und Mitstreiterin bundesdeutscher Sozialpolitik. ND-Autor Dirk Farke sprach mit ihr über die Umsetzung des Karlsruher Urteils.

ND: In Ihrem Gutachten für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes sprechen Sie von der »Geburt eines neuen Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums«. Muss man bei einer geplanten Anhebung des Regelsatzes um fünf Euro nicht eher von einer »Fehlgeburt« sprechen?
Lenze: Ich bin sehr überrascht, wie es die Koalition geschafft hat, die von den Sozialverbänden geforderte Erhöhung auf 420 Euro runter zu rechnen auf ganze fünf Euro pro Monat. Das ist ja noch nicht einmal ein Inflationsausgleich für die Jahre von 2003 bis 2008. Zu fragen ist, wo die Stellschrauben liegen, an denen die Regierung angesetzt hat, um die Regelsätze möglichst niedrig zu halten. Es ist jetzt Sache der Verbände und interessierter Wissenschaftler genau zu überprüfen, ob die Bundesregierung die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes umgesetzt hat oder ob es nicht hinnehmbare Manipulationen zu Lasten der Betroffenen gegeben hat.

Wie ist es der Bundesregierung denn gelungen, den Regelsatz klein zu rechnen?
Es sind vor allem zwei Stellschrauben, an denen gedreht wurde, um die Grundsicherungsleistung »klein zu rechnen«. Zum Einen wurde die Einkommensgruppe, an deren Verbrauch sich die Regelsatzbemessung orientiert, verändert. Ausschlaggebend sind nicht mehr die untersten 20 Prozent der nach ihrem Einkommen geschichteten Haushalte, sondern nur noch die untersten 15 Prozent. Zum Zweiten wurde die verdeckte Armut nicht aus der Referenzgruppe heraus gerechnet: Es ist bekannt – auch wenn die Regierung das immer wieder bestreitet – dass viele Menschen, die einen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen hätten, keinen Antrag stellen. Dies sind nach vorsichtigen Schätzungen mindestens drei Millionen Menschen. Wenn diese in der Referenzgruppe bleiben, dann führt dies zu einem Stagnieren oder Sinken der Regelsätze.

Jürgen Borchert, Vorsitzender Richter am hessischen Landessozialgericht, der Karlsruhe die Höhe der Regelsätze zur Überprüfung vorgelegt hat, kritisiert seit vielen Jahren, dass sich – wenn es um die Umsetzung der Familiengerechtigkeit in der Sozialversicherung geht – keine Bundesregierung den Urteilen aus Karlsruhe gebeugt hätte. Würden Sie sagen, dies gilt nun auch wieder für dieses Urteil?
Der Kritik von Jürgen Borchert stimme ich voll und ganz zu. Die Vorgaben aus Karlsruhe werden auch bei diesem Urteil wohl nicht umgesetzt. Die Regierung hält weiter am Lohnabstandsgebot fest, obwohl dieses verfassungsrechtlich nach der Entscheidung aus Karlsruhe keinen Bestand mehr hat. Dahinter steckt die irrige Auffassung, die Arbeitslosigkeit sei allein deshalb zu hoch, weil die Sozialleistungen zu hoch seien. Es fehlt an dem politischen Willen, die Löhne anzuheben und den Arbeitsmarkt wieder stärker zu regulieren.

Die Regelsätze für Kinder sollen nun überhaupt nicht steigen. Stattdessen soll es Gutscheine bzw. eine elektronische Bildungs-Chipkarte geben, mit der Kinder und Jugendliche Nachhilfe und Mitgliedsbeiträge in Sportvereinen bezahlen sollen. Reicht das aus, um die Chancen der Kinder zu erhöhen?
Die Kinder sind unsere Zukunft – auch jene 20 Prozent eines Jahrgangs, die die Schulen mit so schlechten Kenntnissen verlassen, dass sie dauerhaft nicht erwerbstätig sein werden. Das weiß natürlich auch die Regierung. Die erwachsenen Hilfebedürftigen hat diese Koalition aufgegeben und versucht nun, die bedürftigen Kinder an den Erwachsenen »vorbei zu fördern«. Die geplante Gutscheinlösung wird aber wenig bringen, weil viele Kinder nicht erreicht werden. Die Bildungsbedarfe müssen ja erst geweckt werden. Wir benötigen deshalb gut ausgestattete Ganztagsschulen und eine Pädagogik, die mit neuen Konzepten die bislang benachteiligten Kinder fördert.

Auch ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren zur Ermittlung des Existenzminimums und eine deutliche Anhebung der Regelsätze ändert nichts an dem großen Problem des Ausschlusses von Millionen von Menschen an der Erwerbsarbeit. Wie könnte man dieses immer dringender werdende Problem angehen?
Hier benötigen wir unbedingt einen Systemwechsel. Die immer weiter steigenden Kosten der Sozialen Sicherung werden auf immer weniger Menschen abgewälzt. Für Arbeitgeber ist es unter Wettbewerbsbedingungen unattraktiv, in den unteren Lohngruppen Arbeitsplätze zu schaffen. Wir benötigen deshalb eine Bürgerversicherung, in die alle Bürger und Bürgerinnen und alle Einkunftsarten einbezogen werden. Nur so lassen sich die Lohnnebenkosten – vor allem die der unteren Einkommensgruppen – senken und es wird für Arbeitgeber wieder attraktiver, Arbeitsplätze in diesem Segment zu schaffen.

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