System, Kritik

»Spurensuche«: 20. euro-scene Leipzig

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.
»Storia dell'Africa«
»Storia dell'Africa«

In mehrfacher Hinsicht, sagt Direktorin Ann-Elisabeth Wolff, möchte sie das Motto »Spurensuche« der 20. euro-scene Leipzig verstanden wissen. Welche Spuren beim Publikum gelegt wurden, welche in den Künstlern nachblieben, welche in die Zukunft führen könnten. Eine Art Resumee bot das Jubiläum des Festivals zeitgenössischen europäischen Theaters; gern geladene Künstler zu präsentieren hieß dennoch nicht, den Blick aufs Gestern zu richten.

Was 1991 mit vier Tagen Spieldauer und als Experiment begann, hat sich als wichtigstes Podium für Tanz und Theater in den neuen Bundesländern etabliert. An sechs Tagen bot es zwölf Gastspiele aus zehn Ländern in 25 Vorstellungen und neun Spielorten, zog rund 7500 Zuschauer an, Auslastung knapp 98 Prozent. Dem Thema Osteuropa widmete sich erstmals ein Symposium. »Ost-West-Passagen« fragte nach Impulsen aus dem Osten und begann mit bitterer Bilanz: Waren vorm Mauerfall Theater und Tanz aus Ost in West so etwas wie ein Exotikum, nahm der Westen die Beiträge nicht auch als ein Ästhetikum an. Die Arrivierten Ost wanderten nach West, inventive Dürre blieb in ihren Ländern nach. Ob sich das geändert hat, diskutierten Künstler, Festivalmacher und Theoretiker.

Praktisch hat die euro-scene seit eh dazu beigetragen, Ost und West zusammenzubringen. Renommierte Ensembles rahmten sie auch diesmal wieder. Alain Platels »Out of context – for Pina« als Eingangsabend glossierte mit Humor Leere und Oberflächlichkeit unseres Lebens. Vor »Empty moves«, Angelin Preljocajs Reflexion einer Lesung von John Cage in Mailand 1977, als Festivalschluss, stand in vielen Produktionen die Gegenwart im Kreuzfeuer der Kritik. Wenig über eine Zustandsbeschreibung kam »Prophezeiung 20/11« hinaus: Philipp J. Neumanns Auftragswerk fürs Festival strandete als bewegte Installation, wo lähmende Lethargie der jungen Generation Ausgangspunkt einer Wegsuche hätte sein müssen.

Zwei Stars der italienischen Szene waren da entschieden kreativer. Nur 15 Minuten ging Romeo Castelluccis Performance »Storia contemporanea dell'Africa. Vol. III«. Von seinen sieben Kindern lässt er sich wie in einen geschwungenen Sarg in eine rituelle Plastik einsperren, dann in Bethaltung aufrichten: Nicht Blut weint sie, weißer Schaum tropft ihr aus dem Mund. Europas Abbitte an einen leergeplünderten Kontinent?

Frontalattacke der poetischen Art liefert Pippo Delbono mit »La menzogna«. Einen Brand im ThyssenKrupp-Werk Turin, bei dem 2007 mangels Sicherheit sieben Arbeiter zu Tode kamen, nutzt er für eine Generalabrechnung mit dem Kapitalismus. Leben spielt sich zwischen Spints und Gitterverschlägen ab, in der Mitte jener showhafte Schlund, der die Arbeiter verschlingt und ausspeit. Delbono kommentiert, pomadisiert sich zum Chef, Typ Berlusconi, führt sie vor, die geilen Nutznießer des »Systems«, auch zwei Geistliche. Ihnen gegenüber stellt er, wen er nicht zur »Lüge«, so der Titel, rechnet: Ex-Obdachlose, einen Taubstummen, den Jungen mit Down-Syndrom. Sie zählen seit langem zu seiner Crew; viele, auch Delbono, entkleiden sich: Das ist die Wahrheit, nicht das Gebaren der Offiziellen.

Zynisch enttarnt Johan Simons aus Amsterdam in »Twee stemmen« die Gier nach Macht und nutzt dazu Texte von Pasolini. An einer Tafel entlarven sich Vertreter des »Systems« als divergente Charaktere, einig im Streben, an der Spitze zu bleiben. Der 90-Minuten-Monolog lebt von Jeroen Willems' grandiosem Spiel, brillant sarkastischem Wortwitz, untermalender Gestik. Dem über das Nichts sinnierenden Intellektuellen, dem verschlagenen Politmafioso, dem Schmierigen vom Aufsichtsrat, der dümmlichen Edeldirne, dem willfährigen Kleriker verleiht er gespenstische Kontur. In der Rede eines realen Managers über die scheinbare Ohnmacht der Wirtschaft verkehren sich die Werte einer Gewinn maximierenden Gesellschaft endgültig.

Gastspiele von Ivo Dimchev aus Sofia um die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit und dem Nationaltheater Kosovo, Prishtina, nach einer Vorlage Ionescos standen für Osteuropa. Einer der schönsten Beiträge: Alvis Hermanis' »Sonja«, die Geschichte einer tragikomischen Liebe, ohne Dialoge, nur Bild, wie es der Regisseur aus Riga fand. Preisträger des beliebten Solotanzwettbewerbs stellte mit neuen Werken eine »Lange Nacht« vor.

Was die euro-scene auch reich macht: Wolffs Gespür für zauberhafte Kinderstücke wie das indische Schattenspiel »Savitra« des Theaters Lísen aus Brno um die Kraft der Liebe. Zumindest bis 2012 ist das Festival finanziert.

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