Mach mal Pause

Viele Menschen werden mit dem Stress im Alltag nicht mehr fertig

  • Roland Mischke
  • Lesedauer: 3 Min.
Immer mehr Informationen, stärkerer Leistungsdruck und höhere Ansprüche setzen Menschen matt. Wir sind eine erschöpfte Gesellschaft. Nur Pausemachen hilft gegen körperliche und psychische Erkrankungen.
Mach mal Pause

Ein Büroarbeiter mit Aktentasche steht nach 21 Uhr im Supermarkt vor überquellenden Regalen. Er kommt aus elf Stunden in der Arbeitswelt, muss umschalten. Er rastert das bunte Warenangebot ab, sein Gesicht zeigt Ratlosigkeit, dann greift er nach zwei, drei Packungen und tappt zur Kasse. Plötzlich schnappt er sich noch ein Brot. Er sieht bleich aus.

Wir sind getriebene Menschen, haben wenig Zeit für uns und andere. Wir sind restlos verplant, oft überfordert und vergesslich. Mussten sich Menschen früher vor Epidemien fürchten, vor Pest und Cholera, fürchten wir uns vor Alltagsstress und den Folgen – Aufmerksamkeitsverlust, Konzentrationsschwierigkeiten, Ermattung, Depression, körperliche und geistige Erschöpfung, Burn-out. Die erschöpfte Gesellschaft verlässt das Hamsterrad des täglichen Stress-Einerlei erst, wenn der Körper sie dazu zwingt.

Der Medientheoretiker Byung-Chul Han von der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe erklärt in seinem Buch »Müdigkeitsgesellschaft«, dass aus der Disziplinargesellschaft eine Leistungsgesellschaft geworden ist. Unsere Vorfahren waren Befehlsempfänger, ihre Welt war klar und übersichtlich, oft auch langweilig. Wir sind Unternehmer unseres eigenen Lebens, unsere Welt ist unübersichtlich, unser Handeln nicht immer klar. Viele halten das erstaunlich lange durch. Aber immer mehr machen schlapp. Han nennt den restlos erschöpften Zeitgenossen den »Invaliden eines verinnerlichten Krieges«.

Multi-Tasker können vieles, und das oft gleichzeitig. Auto fahren und dabei telefonieren. E-Mails lesen und währenddessen Termine machen. Zuhause auf dem Sofa liegen, das Handy in Reichweite, selbst am Wochenende. Mehrgleisiges Arbeiten und Denken gilt als typisches Merkmal des modernen Lebens. Doch das menschliche Gehirn ist dazu nicht geeignet. Eine Studie des Psychologen James Watson von der Universität Utah mit Anfangszwanzigern, die noch gute Nerven haben, zeigte, dass 97,5 Prozent der Teilnehmer beim Multitasking – Denkaufgaben am Handy beim Autofahren lösen – schlechter abschnitten, als hätten sie die Aufgaben getrennt erfüllt.

Dennoch wird das Unmögliche ständig versucht. »Yes, we can« heißt das allgemein anerkannte Lebensmotto. Es zermürbt Menschen, weil sie es partout nicht schaffen, das scheinbar lebensfreudige Motto umzusetzen. Sie quälen sich mit Selbstvorwürfen, fordern von sich eine Steigerung der persönlichen Leistung, können niemand anderen beschuldigen, wenn es doch nicht gelingt. Dann folgt die Erschöpfung. Sie schlägt sich zuerst fast immer in Schlafstörungen nieder, die auf psychische Erkrankungen wie Psychosen, depressive Störungen oder tief sitzende Angst weisen. Schlafstörungen – ein Zeichen für körperliche Erkrankung – sind weit verbreitet.

Byung-Chul Han sieht nur eine Lösung: die Unterbrechung. Der Mensch muss sich besinnen auf seine ursprüngliche Fähigkeit, etwas nicht zu tun. Er plädiert für den bewussten Verzicht. Für Han besteht darin kein Versagen, nicht die Unfähigkeit, sich den Leistungsanforderungen zu stellen. Vielmehr sieht der Philosoph chinesischer Abstammung darin die höchste Form der Selbstbestimmung – nein zu sagen, innezuhalten, das pausenlose Gehirndoping nicht mehr zuzulassen, wieder das Wesentliche im Berufs- oder Familienalltag zu finden. Mensch, mach mal Pause!

Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft, Matthes & Seitz, 68 S., 10 €.

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