Geschichten von Menschen am Meer

Noch immer schwierig: das Zusammenleben von Russen und Esten in der Kulturhauptstadt Tallinn 2011

  • Andreas Steidel
  • Lesedauer: 6 Min.
Tallinn ist seit 1. Januar europäische Kulturhauptstadt 2011. Bis heute leben Russen und Esten dort in zwei verschiedenen Welten. Als Tourist kann man beide für sich entdecken.
Junge Esten unterschiedlicher Herkunft: Maret und Stanislav mit den Puppen Lotte und Sipsik
Junge Esten unterschiedlicher Herkunft: Maret und Stanislav mit den Puppen Lotte und Sipsik

Stanislav Lomunov ist ein sympathischer Typ. Hat Grübchen beim Lächeln und den Schalk im Nacken, wenn er Geschichten erzählt. Immer wieder lässt er Sipsik erzählen, eine bunte Handpuppe aus der estnischen Kinderbuchliteratur. Sipsik ist nicht maulfaul und weiß ziemlich viel über Tallinn. Genau wie Stanislaw, der als Gästeführer Amerikaner, Deutsche, Esten oder Russen begleitet.

Stanislav Lomunov liebt Tallinn. Er wurde hier geboren, ist verheiratet, Vater eines Sohnes und Mitglied der evangelischen Kirchengemeinde. Wer mit ihm unterwegs ist, hat mindestens zwei Künstler, einen Dichter, ein Hinterhofcafé und einen Bernsteinladen kennengelernt, der gute Preise macht. Stanislaw ist ein Insider, einer, den man gerne um sich hat, wenn man fremd in einer Stadt ist.

Manchmal fühlt sich Stanislav auch ein wenig fremd in Tallinn. Es sind die Momente, wenn sein russischer Name Lomunov wichtiger ist als seine Person. Wenn zwischen Esten und Russen unterschieden wird, obwohl beide den gleichen Pass haben. Wenn Sipsik wie eine Figur aus einer Kultur wirkt, die mit den Identitäten hadert.

Spannende Entdeckungen

Das Verhältnis von Esten und Russen ist ein schwieriges. 50 Jahre lang haben die Sowjets die Einheimischen unterdrückt. Russisch zur dominanten Sprache gemacht und so viele Russen angesiedelt, bis sie fast 40 Prozent der Bevölkerung stellten. Als Estland 1991 unabhängig wurde, gerieten die Russen an den Rand der Gesellschaft. Bis heute leben Russen und Esten in zwei verschiedenen Welten.

Es ist spannend, diese Welten zu entdecken. Stanislav bittet seine Gäste in die Alexander-Newski-Kathedrale hinein. In der Hauptkirche der Russisch-Orthodoxen ist Gottesdienst. Goldumrahmte Ikonen zieren die Wände, Weihrauchduft erfüllt die Luft, hinter einer Wand zelebriert unsichtbar ein Priester seine Sprechgesänge. Die Newski-Kathedrale gehört zu Tallinn wie das Meer zur Küste. Ihre fünf Zwiebeltürme dürfen in keinem touristischen Fotoalbum fehlen.

Die Sowjets hatten das Meer zum militärischen Sperrgebiet erklärt und die Bewohner Tallinns weitgehend von ihrer Küste ferngehalten. Das Motto der europäischen Kulturhauptstadt ist eine Antwort darauf. Die »Geschichten am Meer« sollen ein anderes Kapitel in der Historie Tallinns aufschlagen. Sollen zusammen mit einer neuen Strandpromenade und einem Meeresmuseum die Zeit der maritimen Abgewandtheit beenden.

Das Meer sieht man vom Domberg aus: Zwischen den schlanken Kirchtürmen und roten Spitzhauben der runden Wachtürme blitzt es strahlend Blau hindurch. Täglich schlendern Tausende von Kreuzfahrttouristen durch die verwinkelten Gassen der Altstadt, trinken Cappuccino auf dem Rathausmarkt, gehen shoppen in die kleinen Läden, entdecken ein mittelalterliches Zentrum, das übersichtlich wie eine Kleinstadt ist und seit 1997 den Titel UNESCO-Weltkulturerbe trägt.

Stanislav freut sich auf das Kulturjahr 2011. Tallinn wird in den nächsten Monaten eine sehr internationale Stadt sein und dem Gästeführer Lomunov viel Arbeit bringen. »Welcome«, »herzlich willkommen«, »teretulnud«. Türkisch möchte er sich und Sipsik irgendwann auch noch beibringen.

Maret sagt, dass Stanislav akzentfrei Estnisch spricht. Maret ist eine estische Estin und für die Touristinformation der Hauptstadt zuständig. Sie hat fünf Jahre in England gelebt und dort einen Briten arabischer Abstammung geheiratet. Für Maret reduzieren sich die ethnischen Fragen dieser Welt nicht mehr auf den Unterschied zwischen Russen und Esten.

»Ich glaube, ich bin estnischer als du«, sagt Stanislav mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Er hat seine 30 Lebensjahre in Tallinn mit den 27 von Maret verrechnet und dabei ihre fünf englischen abgezogen. Acht Jahre Vorsprung für Sipsik und sein Herrchen. Man kann ein schweres Thema eben auch leicht nehmen.

Als Staatenlose in Estland

Ganz schwer war es, als 2007 das russische Soldatendenkmal vom Zentrum an den Rand der Stadt versetzt wurde. Die Esten wollten es aus ihrem Blickfeld haben, und die Russen gingen auf die Barrikaden. Für einen kurzen Moment erschütterten Unruhen das kleine friedliche Land im Nordosten Europas.

»Stimmungsmache«, winkt Dimitri Mironov ab. Der Este russischer Abstammung ist Direktor des Integrationsinstituts an der Universität Tallinn. Das russische Fernsehen habe die Leute aufgehetzt. Fast alle Russen in Estland schauen russisches Fernsehen. »Die Sprache ist das entscheidende« sagt Mironov und bringt jährlich 120 russischstämmigen Studenten perfektes Estnisch bei.

Es gibt immer noch Russen in Estland, die kein Estnisch sprechen. Die keinen estnischen Pass besitzen. Seit dem Ende der Sowjetunion sind sie staatenlos und fühlen sich gar nicht so schlecht dabei: Dank eines Sonderabkommens dürfen sie sowohl in die EU als auch nach Russland ohne Formalitäten einreisen, während Esten an der russischen Grenze ein Visum brauchen.

Geschichte aufarbeiten

Absurde Geschichten vom Meer. Produkte einer jungen, verworrenen Geschichte, die sich allmählich zu sortieren beginnt. Peep Ehasalu vom Hotel Viru ist gerade dabei, das Durcheinander aufzuräumen. Im 23. Stock des 560-Betten-Hauses liegen die Reste der kleinen KGB-Zentrale ausgebreitet auf einem Schreibtisch. Telefone, Transistoren, Formulare mit kyrillischen Buchstaben. Demnächst soll daraus ein Museum entstehen, werden Führungen durch die kuriose Vergangenheit stattfinden.

Das Viru-Hotel war die Nobelherberge für internationale Besucher. Der Schah von Persien, Elizabeth Taylor, alle waren hier. Auch der russische Geheimdienst hatte ein Zimmer gebucht. Als der Hausmeister einmal versehentlich seine Nase hineinstrecke, hatte er eine entsicherte Pistole im Gesicht.

Die Geschichte aufzuarbeiten, ist Stanislav wichtig. Ansätze wie im Okkupationsmuseum sind ihm dennoch zuwider: Dort wird die Periode der Sowjets mit »Roter Terror« bezeichnet, während die NS-Herrschaft neutral mit »Estland im Zweiten Weltkrieg« überschrieben wird.

Stanislav träumt davon, dass eines Tages Touristen auch seinen Stadtteil Lasnamäe besuchen. Dass sie mit ihm die Spuren der russischen Besiedlung Estlands finden wollen. In der von den Sowjets erbauten Trabantensiedlung am Rande von Tallinn leben über 100 000 Menschen mit russischen Wurzeln. Drei von ihnen sind Stanislav, Anastasia und ihr kleiner Sohn Ilya. Er spielt übrigens gerne mit Sipsik, und gemeinsam werden sie eines Tages ein paar neue Geschichten vom Meer erzählen.

  • Unter dem Motto »Geschichten am Meer« gibt es rund 300 Projekte und Events. Höhepunkte sind die Eröffnung des Meeresmuseums und der Strandpromenade, das Jugendsängerfest und die Mittelaltertage im Juli. Das komplette Programm steht im Internet unter www.tallinn2011.ee
  • Allgemeine Auskunft: Baltische Zentrale für Tourismus, Tel. (030) 890 090 91, www.visitestonia.com
  • Flüge: Von Frankfurt und München fliegt Lufthansa direkt. Günstige Verbindungen über Riga gibt es ab Berlin, München, Frankfurt, Düsseldorf, Hannover, Hamburg und Bremen mit Air Baltic.
  • Währung: Seit 1. Januar gilt der in Estland der Euro. Die EC-Karte funktioniert an allen Geldautomaten.
  • Reiseführer: Tallinn von Marco Polo, 9,95 Euro. Estland, Dumont Reise-Taschenbuch, 14,95 Euro.
Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal