Von der Tragödie zur Farce
Sarrazin 2.0
Es gibt ein Foto von Thilo Sarrazin, das sagt mehr aus als alle Worte. Der Ex-Banker und Ex-Finanzsenator ist darauf bei der Vorstellung seines Buches »Deutschland schafft sich ab« zu sehen. Er sitzt ein einem Tisch, die Hände über der Brust verschränkt, den Blick kindlich-trotzig in die Kamera gerichtet. So inszeniert sich jemand, der sich sicher darin ist, dass der Rest der Welt von Menschen mit limitierten geistigen Fähigkeiten bevölkert ist. »Ich habe immer recht und ihr nicht!« Das Foto ist der Gewinner des Wettbewerbs »Rückblende 2010«.
Vielleicht ist das die Tragik, die in solchen Figuren wie der von Sarrazin steckt: Ihr Denken ist stets auf die Hilfe der Medien angewiesen; jeder Gedanke muss überdreht werden, um ihn über den Boulevard zerren zu können. Dort wird er so lange präsentiert, bis er die irrlichternde Scheinwelt, aus der er stammt, erfolgreich verleugnen kann.
Das ist auch in der aktuellen Sarrazin-Debatte so. Hauptfigur in Sarrazin 2.0. ist diesmal seine Ehefrau Ursula Sarrazin. Die ist Grundschullehrerin und hat derzeit Ärger an ihrem Arbeitsplatz. Eltern und Schüler haben sich über ihren autoritären Unterrichtsstil beschwert. Die Vorwürfe sind nicht neu, zum Teil schon fast zehn Jahre alt. Weil es aber nicht um irgendeine Lehrerin geht, sondern um Thilos Frau, interessieren sich jetzt auch die Medien für den Vorgang.
»Die Beschwerden über die Berliner Grundschullehrerin und ihre Rechtfertigungen füllen weiter die Medien der Hauptstadt«, heißt es in einer dpa-Meldung vom 18. Januar. Nein, das stimmt nicht! Nicht die Beschwerden, sondern die Berichterstattung über die Frau Sarrazin füllt die Berliner Medien. Es ist ein Lehrbeispiel für die Selbstreferenzialität der Medien. Zunächst war es die Springer-Presse, allen voran »Bild«, die sich dem Streit zwischen Ursula Sarrazin auf der einen, Kollegen, Schulleitung, Eltern und Schülern auf der anderen Seite widmete. Und Ursula Sarrazin stand bereitwillig für Interviews bereit. Doch so recht wollten andere Medien nicht auf das neuerliche Sarrazin-Stück anspringen.
Da half es auch nichts, dass Thilo selbst seiner Frau beistand und ihren Kritikern vorwarf, einen Stellvertreterkrieg zu führen, denn eigentlich gälten die Attacken ihm.
Dann nahm sich der »Focus« der Sache an und veröffentlichte Anfang der Woche ein Gespräch mit Ursula Sarrazin, in dem diese zu einem Rundumschlag gegen das deutsche Schulsystem ausholte. Um die Dringlichkeit der Angelegenheit für die Kollegen anderer Medienorgane zu unterstreichen, garnierte das sogenannte Nachrichtenmagazin das Interview mit Zitaten aus Thilo Sarrazins Buch und platzierte ihn auf dem Titelbild hinter seiner Frau. Und siehe da, die Maschinerie sprang an.
Vorläufiger Höhepunkt ist eine Gespensterdebatte in einigen Zeitungen über die Frage, wie streng Lehrer sein dürfen, müssen, sollen. Was bei Thilo Sarrazin noch als Tragöde begann, hat sich jetzt zur Farce entwickelt.
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