Stadt der Weltverbesserer

Marburg ist amtierende »Hauptstadt des Fairen Handels« – und überzeugt mit Bildungsarbeit und eigenem Kaffee

  • Jenny Becker
  • Lesedauer: 6 Min.
Gerechter Handel: »Fairer Handel ist eine Handelspartnerschaft, die auf Dialog, Transparenz und Respekt beruht und nach mehr Gerechtigkeit im internationalen Handel strebt«, definiert der Arbeitskreis FINE, ein Zusammenschluss der vier internationalen Dachverbände des Fairen Handels. Die Alternative zum konventionellen Welthandel setzt auf nachhaltige Entwicklung und die Sicherung sozialer Rechte für ausgeschlossene und benachteiligte Produzenten – insbesondere in den Ländern des Südens.
Mit 14 Kilogramm Schokoladengrüßen will Marburg seine Bürger und Touristen zum fairen Konsum verführen.
Mit 14 Kilogramm Schokoladengrüßen will Marburg seine Bürger und Touristen zum fairen Konsum verführen.

Die Dame in der Marburger Touristeninformation schaut verständnislos. Material über den Fairen Handel? Hauptstadttitel? Sie weiß von nichts. Doch fragt man die Marburger, ob sie von der Auszeichnung ihrer Stadt gehört haben, heißt es immer wieder: Naja, es gibt doch dieses Schild an der B3... Seit einiger Zeit wird das Schild am Ortseingang von einem Aufkleber verziert: »Wir sind Hauptstadt des Fairen Handels«. Die hessische Universitätsstadt ist stolz auf ihren Titel. Trotzdem ist in den Gassen der Altstadt mit ihren hübschen Giebelhäuschen wenig von dem vielfältigen Engagement für sozialverträgliche Produkte zu spüren. An den Schaufenstern sucht man vergeblich Hinweise auf fair gehandelte Ware. Dabei gibt es in Marburg fast 60 Läden und Lokale, die Kaffee mit dem offiziellen Fairtrade-Siegel anbieten.

Der Titel »Hauptstadt des Fairen Handels« wird seit 2003 alle zwei Jahre von der »Servicestelle Kommunen in der Einen Welt« verliehen, die jetzt der fusionierten Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit angehört. Marburg wurde 2009 ausgezeichnet und trägt den Titel bis zum Herbst, wenn die nächste Hauptstadt gekürt wird.

Den ersten Platz bekam Marburg vor allem wegen seiner umfangreichen Bildungsarbeit, in die auch der größte Teil der 35 000 Euro Preisgeld floss. Seit Jahren engagiert sich der Marburger Weltladen für die Aufklärung über nachhaltige Entwicklung, arbeitet in einem breiten Netzwerk mit Schulen und Initiativen zusammen. Im Laden werden Ausstellungen gezeigt und Vorträge gehalten. Die Regale stehen auf Rollen, sie lassen sich verschieben, um Platz für Leinwand und Stühle zu schaffen. Der Weltladen ist als außerschulischer Lernort etabliert – in bester Lage, direkt am historischen Marktplatz.

Eines seiner festen Projekte ist die »Kaffeefahrt«, die in Kooperation mit der »Grünen Schule« des Botanischen Gartens stattfindet. Im dortigen Chemieraum riecht es leicht verbrannt. Jugendliche in Adidas-Hosen und Lederjacken hantieren eifrig mit Kochplatten und gusseisernen Pfannen. Sie rösten Kaffee. Ein Fenster wird geöffnet, der würzige Dunst entweicht nach draußen, während drinnen ein munteres Knacken beginnt. Es sind die aufspringenden Kaffeebohnen, bald können sie gemahlen und frisch gebrüht getrunken werden. Den ganzen Vormittag beschäftigt sich die Gruppe mit dem Lieblingsgetränk der Deutschen – mit seinem Anbau, den Arbeitsbedingungen auf den Plantagen und dem Fairen Handel.

Gerechter Konsum, vom Mittelalter bis heute

In der klebrigen Wärme des Gewächshauses stehen die 26 Berufsschüler unter einem Kaffeebaum. An den Ästen hängen grüne, gelbe und rote Früchte, in der Größe von Hagebutten: Kaffeekirschen in ihren unterschiedlichen Reifestadien. Der Anblick macht deutlich, warum die Ernte nicht automatisiert werden kann, sondern aufwändig per Hand erfolgen muss. In einem Planspiel bekommen die 16- bis 24-Jährigen dann das Machtgefälle zwischen Kaffeebauern und Zwischenhändlern zu spüren, die abends in Trucks auf die Plantagen kommen. In der Rolle der Bauern sollen sie ihre Tagesernte an Franziska Weigand verkaufen, die den Händler mimt. Die 36-Jährige führt den Projekttag als Vertreterin des Weltladens gemeinsam mit der Leiterin der »Grünen Schule« durch. Beim Feilschen tun sich die Schüler schwer. »Ich frage mich, was man da sagen soll? Man hat ja keinerlei Macht!«, klagt einer. Und der Preis für ein Pfund Kaffee, den die Börse diktiert, ist manchmal extrem niedrig. »Da würde ich morgens gar nicht erst aufstehen«, ergänzt eine Klassenkameradin.

Franziska Weigand nickt. »Was aber könntet ihr tun, um eure Lage zu verbessern?« Die Antwort ist einfach: Wenn sich die Bauern in einer Gemeinschaft organisieren, haben sie statt wenige Kilo eine ganze Tonne Kaffee zu verkaufen und können sich direkt an Großhändler wenden. Der Zwischenhandel entfällt, die Bauern verdienen mehr und können feste Vertragsbedingungen aushandeln. Ein Schritt aus der Armut, ein Schritt in den Fairen Handel. Die simple Lösung für die Probleme der Kleinbauern überrascht die Schüler.

Ein Beispiel für den Aufbau partnerschaftlicher Handelsbeziehungen bekommen sie direkt vor Augen geführt: Franziska Weigand zeigt Fotos aus Honduras, von der Frauenorganisation COMUCAP. Seit 2007 arbeitet der Weltladen mit der Genossenschaft zusammen, gegenseitige Besuche gehören dazu. Auch das war ein Grund für den Hauptstadttitel. Die Bäuerinnen liefern die Kaffeebohnen, aus denen der stadteigene »Elisabethkaffee« hergestellt wird, den der Weltladen vertreibt. Der Name hat symbolische Bedeutung. Er erinnert an das Wirken der Elisabeth von Thüringen, die sich im Mittelalter um soziale Gerechtigkeit bemühte und auch in Marburg wirkte. Elisabeth befolgte ein strenges Speisegesetz: Sie verzehrte keinerlei Produkte, die den Bauern abgepresst worden waren. Die Frage nach der Herkunft der Lebensmittel und nach gerechter Entlohnung verbindet ihr Verhalten im 13. Jahrhundert mit dem Fairen Handel heute.

Saunawerbung und schicke Kaffeebar

Gegenwärtig wird Fairer Handel vor allem mit Genussmitteln wie Kaffee oder Schokolade assoziiert. Doch der Gerechtigkeitssinn der Konsumenten soll zunehmend auf andere Produkte ausgeweitet werden. Das ist auch Marburgs Ziel. Gerade ist man dabei die »Marburger Faire Kaffeetafel« zu erweitern. Die Kampagne besteht seit drei Jahren und ist eine Selbstverpflichtung von Gastronomie, Verwaltung und Unternehmen, in ihr Sortiment dauerhaft mindestens eine fair gehandelten Kaffeesorte aufzunehmen. In mühevoller Kleinarbeit zogen Mitarbeiter des Weltladens von Tür zu Tür, um von der Idee zu überzeugen. Das Faltblatt, das alle Beteiligten auflistet, wird stadtweit verteilt – sogar in der Sauna wurde schon eins gefunden. Jetzt sollen daraus die »Fairen Genüsse in Marburg« werden, die noch andere Lebensmittel berücksichtigen. Irgendwann sollen auch Gebrauchsgüter einbezogen werden.

Der »Contigo FairTrade Shop« in der Einkaufsstraße ist bereits auf handwerkliche Produkte spezialisiert. Sie stammen von kleinen Produzenten, mit denen die Ladenkette in direktem Kontakt steht. Auf den ersten Blick könnte man das Geschäft für eine Boutique halten. Sanft beleuchtete Taschen hängen im Schaufenster, drinnen liegt Schmuck in Vitrinen. Doch neben den Produkten stehen Infotafeln, die oft Erstaunliches offenbaren: Die glänzenden Ketten sind aus alten Illustrierten in Uganda gefertigt, die robusten bunten Taschen waren einst Plastiktüten im vermüllten Delhi. Nach Recycling sieht hier nichts mehr aus. Das Konzept von Contigo hat sich Mitte der Neunziger Jahre in Abgrenzung zu den traditionellen Weltläden entwickelt. Aus den vom Ehrenamt lebenden Nischenläden sollten professionelle Einkaufsorte werden, mit einheitlichem Erscheinungsbild und gutsituierter Kundschaft. Wachstum ist das erklärte Unternehmensziel. »Nur dann bekommt der Faire Handel eine Breitenwirkung mit nennenswerten Umsätzen und Zukunftsperspektive«, heißt es auf der Internetseite.

Allerdings werden die Kommerzialisierung und die fehlende Bildungsarbeit vom Weltladen skeptisch gesehen. Doch Contigo-Filialleiterin Stefanie Platt betont: »Eigentlich kämpfen wir für den selben Zweck.« Die Marburger scheinen sich in dem schicken Laden mit eigener Kaffeebar wohl zu fühlen. Zwischen hübschem Porzellan sitzen Menschen in Sakko oder Outdoor-Jacke und schlürfen Espresso, während sie den Panoramablick aus der breiten Fensterfront genießen. Gute Aussicht, auch für den Fairen Handel.

Contigo siedelte sich in dem Jahr in Marburg an, in dem dessen Bemühen um Sozialstandards im Welthandel doppelt belohnt wurde. Die 80 000-Einwohner-Stadt wurde 2009 auch Hessens erste »FairTrade-Town«. Diese Bezeichnung wird in Deutschland seit gut zwei Jahren von dem Verein TransFair verliehen. Im Gegensatz zum Hauptstadttitel bleibt sie den ausgezeichneten Städten und Kommunen erhalten und ist undotiert. Weltweit gibt es mehr als 900 »FairTrade-Towns«, in Deutschland sind es jetzt über 30.

»Der Faire Handel hat in Marburg einen hohen Stellenwert, doch er ist im Stadtbild zu wenig sichtbar«, gibt Jochen Friedrich vom städtischen Umweltamt zu bedenken. Derzeit arbeite man an einem Aufkleber, den sich teilnehmende Läden ins Fenster kleben können. Und demnächst wird ein Bus mit einer Kampagne für den Fairen Handel beklebt. Auch die Logos der Läden, die sich an der »Fairen Kaffeetafel« beteiligen, werden abgebildet. Kostenlos. Wahrscheinlich kann das die Händler schneller überzeugen als jedes moralische Argument.

Im »Contigo FairTrade Shop« kann man nicht nur mit gutem Gewissen einkaufen, sondern auch mit guter Aussicht Kaffee trinken.
Im »Contigo FairTrade Shop« kann man nicht nur mit gutem Gewissen einkaufen, sondern auch mit guter Aussicht Kaffee trinken.
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