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Staaten auf Sand. Also wozu Erdbeben?

Zum 75. Geburtstag des Dichters und Theatermannes B. K. Tragelehn

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Soeben erscheint ein neues Buch von Bernd Klaus Tragelehn. Der Schriftsteller und Regisseur als Übersetzer. Seine verdichtungspräzise Feinfühlung hinein ins elisabethanische Zeitalter lässt an Karl Kraus denken, Tragelehn zitiert ihn wohlbedacht: dass nämlich »kein Wort anders aussieht, als sein Inhalt klingt und dass jedes so schmeckt, wie es riecht«.

Das Buch sammelt Gespräche, Voträge, Übertragungen, Notizen. »Das Besondere ist das Lebendige, das Allgemeine ist das Tödliche.« So redet er über das einzelne Wort, das einzelne Gedicht, den einzelnen Menschen, das einzelne Leben, alles Einzelne, was die Welt trägt.

Wenn wir in einer Epoche der Faktensucht leben, des Katechismus der Information, des Vertrauens in eine Wahrheit, deren Verbreitung mediale Wucht voraussetzt – dann ist dieser Tragelehn ein Vertrackter, dem es nicht um diese Art Wahrheit geht, sondern um die listigste poetischste Weise, beschriebener Auffassung vom Wahren nicht gerecht werden zu müssen. Es geht ihm um die Freiheit der Illusion, er feiert und sucht die Bodenlosigkeit, die aus unseren Vorstellungskräften hervorplatzt. Dichter Tragelehn nennt es »schon die halbe Kunst, eine Geschichte freizuhalten von Erklärungen«. Geschichte, das Doppelwort: Ein ganzes System ist (auch) daran gescheitert, dass die Erklärungen immer dem Leben vorauseilten, es einkeilten, ihm den Atem flach drückten.

Der Dichter aus Dresden, auf frühen Fotos, neben Lehrer Brecht sitzend: ein Wesen zwischen aufsaugender Strebsamkeit und listigem Versteck hinter Ingredienzen der Ordentlichkeit – biedere Frisur und Hornbrille. Am Ende, also ziemlich rasch, ist dann doch der Tragelehn draus geworden: eine mit fülligem Witz gepanzerte Brecht-Kopie, Zigarre und Schwejk

in den Mundwinkeln, der Bart unordentlich, das Denken in kurze, geradezu kristalline verdichtete Verse getrieben. »Der Sohn beschreibt wie der Vater/ Stalins Bild aufhängt und abhängt/ Anschreit im Spiegel den Fremden/ Ich will allein sein Die Enkel/ Jeder für sich

was sehen wer sieht sie/ Zerbrechen Bilder und Spiegel/ Die Scherben krönen die Mauern/Oder öffnen Adern« (1991).

Tragelehn war Meisterschüler bei Brecht. Kurz vor dem Mauerbau inszenierte er mit Studenten der Hochschule für Ökonomie Berlin-Karlshorst Heiner Müllers »Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande«. Die Aufführung gilt als »konterrevolutionär, antikommunistisch, antihumanistisch«. Noch häufig wird er Müllers Erkenntnis zitieren, geboren damals nach einem »bedrohlichen Gespräch« im Kulturministerium, auf dem Weg von Eckkneipe zu Eckkneipe, von Schnaps zu Schnaps: »Es geht eben nicht mit Realismus«, sagte Müller, »und ich habe verstanden: In Deutschland erdrückt die Realität den Realismus.« Von Schnaps zu Schnaps, und dann die nüchternste aller Erkenntnisse, alt wie Büchner oder Lenz – so erneuerte die DDR die deutsche Geschichte.

Rauswurf aus der SED. Kipper-Arbeit im Tagebau Klettwitz. Bewährung bei der führenden Klasse – als Strafaktion. Paul Dessau ist es, der eine Aufhebung des Berufsverbotes erwirkt – weitere Inszenierungs- und Hörspielversuche enden erneut im Verbot.

Im Jahre 1974 verlässt Strindbergs »Fräulein Julie« die Bühne des Berliner Ensembles – Jutta Hoffmann klettert, mit Hilfe handreichender Zuschauer, über die Stuhlreihen nach hinten, nimmt den Ausgang ins Freie. Republikflucht? Das Publikum als Fluchthelfer? Wie war das doch: Eine Geschichte sollte man freihalten von Erklärungen.

Jedenfalls wird Tragelehn, gemeinsam mit Schleef, nun endgültig der DDR-Öffentlichkeit entzogen; eine erste Gedichtsammlung in der Reihe »Poesiealbum« wird ebenfalls gekantet – er geht in den Westen (Stuttgart, Bochum, Frankfurt, München, Düsseldorf), übersetzt Aufsehen erregend elisabethanisches Theater und avanciert zum Regisseur mit den meisten Müller-Inszenierungen.

Müller: Das Einzelkind. Tragelehn empfand ihn wie einen großen Bruder, der des jungen Regisseurs Leichtsinn und Jähzorn zügelte. Gerade bei der Arbeit an der »Umsiedlerin«. Ein Grundlagenstudium fürs Leben als Außenseiter – »Repräsentanten sind Arschlöcher«; Ausbildung in simplizianischer Unfähigkeit, für etwas zu stimmen, wenn Mehrheit dafür ist.

Im Herbst 1989 kehrt der nach Deutschland Vertriebene in die DDR zurück, nun selber ein Umsiedler, der am Umbau teilnehmen

möchte. Das Land »war im Abendlicht ein paar Augenblicke schön«, aber letztlich »unrettbar, ein Sumpf«.

Wenn Tragelehn vom »real existierenden Sozialismus« spricht, verwendet er noch immer gern Enzensbergers Verkürzung »Resozismus«, er hat Epigramme geschrieben über die Hoffnungen von Glasnost und Perestroika, diesen »Sprengungen im Vatikan der neuen Kirche«. Geblieben ist davon nichts, aber doch erneut Hoffnung, also Arbeit: »Von der DDR lernen, heißt untergehen lernen.«

Tragelehn sagt so etwas mit dem triebigen Phlegma desjenigen, dem

sich alle Tragik – auch der eigenen

Erfahrungen – irgendwann lebensrettend in die Komik dreht. Der zeitweilige künstlerische BE-Partner Einar Schleef hat das in seinem »Tagebuch 1964-1976« drastischer ausgedrückt. Tragelehn habe eine »schwierig lahme Art ... auch zwischen uns arbeitet der Konflikt «.

Schwierig lahme Art. Es ist seine

mit den Jahren gewachsene Geduld: das Arbeiten gleichsam als fortwährende Demutserklärung ans Wasser, das dem Fels geschmeidig weicht, so dass der Fels nicht mitkriegt, dass es ihn weicht.

Tragelehn, der inzwischen zu beträchtlichen Teilen des Jahres ein schlichtes Häuschen auf der Insel Saarenmaa vor der Rigaer Bucht belebt – er ist frohgemut und frohgemütlich ein Beobachter des Unvermeidlichen. »Staaten auf Sand gebaut, also wozu Erdbeben«. Das darf ein Schreiben im Einklang mit der Natur genannt werden. Poesie, hart und heiter in die Welt hineingesetzt, aus der sich der Dichter weiterhin, sternenwärts paffend, hinausschreibt. Dorthin, wo die wirklichen Anfänge auf ihre Stunde warten.

B. K. Tragelehn: Der fröhliche Sisyphos. Der Übersetzer. Das Übersetzen. Die Übersetzung. Hrsg. von Gerhard Ahrens. Recherchen, Band 84 bei Theater der Zeit. 195 S., brosch., 16 Euro.
Buchpremiere im BE am 15. April, 19.30 Uhr, Probebühne, es lesen B. K. Tragelehn, Gerhard Ahrens, Jutta Hoffmann.

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