Von Putzfrau Minna und »Freistadt Barackia«

Bei der Tour »Berlin subversiv« erfahren auch Einheimische noch Neues über ihre Stadt

Eine neue Berlin-Tour begibt sich auf die Spuren von Protest und Widerstand in Kreuzberg, Prenzlauer Berg und Mitte. Sie erinnert an Menschen, von denen zwar kaum Zeugnisse erhalten sind, die Berlin aber dennoch für immer geprägt haben.
Win Windisch (m.) macht Verschwundenes sichtbar: Vor nur 150 Jahren war hier noch ein Feld vor den Toren Berlins, auf dem obdachlose Familien ein Hüttendorf errichteten.
Win Windisch (m.) macht Verschwundenes sichtbar: Vor nur 150 Jahren war hier noch ein Feld vor den Toren Berlins, auf dem obdachlose Familien ein Hüttendorf errichteten.

An der Kottbusser Brücke brummt der Verkehr, gegenüber von Netto und Ankerklause, am Ufer des Landwehrkanals, steht Stadtführer Win Windisch mit seiner Gruppe an einem Ort, der vor 150 Jahren Schauplatz erster Wohnungskämpfe war: Damals noch ein leeres Feld direkt vor den Toren Berlins, zimmerten hier obdachlose Familien grobe Holzplatten zu dürftigen Hütten zusammen und organisierten sogar eine Selbstverwaltung. Die »Freistadt Barackia«, wie sie genannt wurde, steht nicht lange: Nach wenigen Monaten werden die Bewohner anlässlich des Staatsbesuchs zweier Kaiser mit Gewalt vertrieben. »So ähnlich, wie es auch heute noch vor internationalen Großveranstaltungen gemacht wird«, fügt Stadtführer Win an. Der Student und Politaktivist verbirgt nicht: Seine Touren durchs »subversive Berlin«, die er zunächst für die Bezirke Kreuzberg, Prenzlauer Berg und Mitte anbietet, sind parteiisch. Sie erzählen »Geschichte von unten«, aus Sicht der »kleinen Leute«, wie sie um einen Platz in der Stadt und ein besseres Leben gekämpft haben und noch heute kämpfen. »Protestbewegungen sind oft nur die Anekdoten am Rande, bei mir stehen sie im Mittelpunkt«, erklärt der 29-Jährige.

Deshalb geht es in den knapp drei Stunden nicht um Könige und Prunkbauten, sondern um Barrikadenkämpfer der 1848er Revolution oder die Putzfrau Minna Fritsch, die Flugblätter gegen die Nazis verbreitete und Kurierdienste für die KPD erledigte. Und man folgt den Spuren namenloser ABM-Kräfte, die zwischen Wassertorplatz und Engelbecken in verschiedenen Generationen erst einen Kanal bauten, ihn dann wieder zuschütteten und schließlich in einen Park umwandelten, was das vorerst letzte Kapitel in der Geschichte dieses Teils von Kreuzberg ist.

Die Tour spannt den Bogen zwischen einzelnen Ereignissen, inhaltlich und zeitlich. So ist die »Freistadt Barackia« eine Episode aus der Zeit der Industrialisierung, als Berlin boomte, die Mieten explodierten und der Görlitzer Bahnhof stündlich neue Arbeitsmigranten auf die Straßen spuckte. Sie ist Geschichte und auch wieder nicht. Denn zwei Ecken weiter, am Fraenkelufer, erzählt Win über die Nachfahren, die Kreuzberger »Instandbesetzer«, die 100 Jahre später ebenfalls zur Selbsthilfe schritten und einfach in leer stehende Altbauten einzogen, und über die Initiativen, die sich heute dagegen wehren, dass preiswerte Sozialwohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt werden. »So etwas wie hier im Gräfe-Kiez«, weist er in Richtung des gutbürgerlichen Viertels, »das hätte Rot-Rot nicht passieren müssen.«

Auch wenn die neuen sozialen Bewegungen nicht fehlen dürfen bei einem Gang durch den Berliner Protestkiez schlechthin – die subversive Geschichte dieser Gegend fängt lange vorher an: Zum Beispiel die des 1. Mai nicht 1987 mit dem brennenden Bolle-Markt, sondern 1890 mit dem Arbeiterführer August Bebel und seiner historischen Rede zum Sozialismus in der Hasenheide, wie Win betont. Sein Herz, das merkt man, schlägt für die Kämpfe der Arbeiterbewegung, die sich in Berlins rebellischem Südosten abgespielt haben. Ausgehend vom Lokalen entfaltet sich Berliner, deutsche, linke Geschichte. Man erfährt, wo sich Sozialdemokraten trafen, als ihre Partei durch die Sozialistengesetze verboten war, was die U-Bahn-Architektur über soziale Ungleichheit verrät und was der Siegeszug des Döners mit dem Ende des deutschen Wirtschaftswunders zu tun hat. Am Hohenstauffenplatz kein Wort zur alten Königsfamilie, dafür eine Geschichte über die paramilitärische Einheit der KPD, den Rotfrontkämpferbund, der an einer Seite des Platzes einen Treffpunkt hatte.

Dieses Haus steht noch, doch an anderer Stelle findet sich der interessierte Kreuzberg-Erkunder auf einem leeren Platz wieder, mit Blick auf angegraute Wohnklötze, und lauscht den bewegten Tagen rund um das alte Restaurant »Zur Linde«. In solchen Fällen hilft sich Stadtführer Win mit historischen Bildern aus seiner dicken Mappe. Die hat er – wie sein Wissen – aus verschiedenen Berlin-Büchern zusammengetragen. Zum Einsatz kommt auch ein »antifaschistischer Stadtplan«, den die linke Berliner »Galerie Olga Benario« vertreibt. »Die jetzt schon verborgenen Spuren werden noch weiter verschwinden, wenn man nicht daran erinnert«, wird er zum Abschluss am Mauerstreifen sagen.

Gewürzt wird die subversive Tour mit Tipps für die besten Köfte im Viertel und kurze, unbestellte Aufritte von Kreuzbergern, die mal pöbeln – »Antifaschistischer Stadtplan, so was gibt's ja janich« oder auch freundlich nachfragen: »Kann ich den mitnehmen?«

Die Touren finden jeden Sonntag, 14 Uhr, und nach individueller Vereinbarung statt. Sie kosten zwischen 5 und 10 Euro.
Kontakt: www.berlin-subversiv.de oder 0177 / 4 25 97 30.

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