Gülay hat es geschafft

Portät einer Psychologin

  • Margit Glasow
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn sie redet, kann man sich ihrer Aufmerksamkeit kaum entziehen. Ist es ihre Offenheit? Ihre freundliche Art, anderen mit Respekt zu begegnen? Oder ist es die Kraft, die aus ihrer Stimme spricht, auch wenn diese mitunter durch die Spasmen, die ihren Körper durchzucken, an Volumen verliert?

Die 39-jährige türkische Psychologin sitzt im Schneidersitz in ihrem Rollstuhl. Ihre Arme sind an den Lehnen festgebunden, damit sie nicht unkontrolliert in irgendeine Richtung schießen. Anna, ihre Assistentin, reicht ihr den Milchkaffee, von dem sie ein paar Schlucke mit dem Strohhalm trinkt. Dann erzählt sie. Von ihrer Kindheit in einer türkischen Familie mit traditionellen Wertvorstellungen, von ihrer schwierigen schulischen und beruflichen Entwicklung und von ihrem ständigen Kampf um Akzeptanz.

Gülay wird mit einer Infantilen Cerebralparese in der Türkei geboren. Als sie sechs Monate alt ist, holt der Vater, Gastarbeiter in Deutschland, die Familie – seine Frau, seine zwei Töchter und seinen Sohn – nach Essen. Hier wird Gülay in der Hoffnung auf Heilung von einem Wunderheiler zum anderen geschleppt. Doch Heilung gibt es nicht. »Meine Eltern waren davon überzeugt, dass Behinderung eine Art göttliche Bestrafung sei«, erklärt sie. »Als Kind habe ich mit dieser Sichtweise gehadert.« Das Mädchen wird als lernbehindert eingestuft und macht an einer Sonderschule zunächst den qualifizierten Hauptschulabschluss. Zu Hause lernt sie den Stoff, den ihre nur ein Jahr ältere Schwester an der Realschule vermittelt bekommt. Sie begreift schnell und hat großen Spaß daran. Und sie weiß: Sie will nicht in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung landen.

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Meine Eltern waren davon überzeugt, dass Behinderung etwas Schlechtes, eine Art göttliche Bestrafung sei. Als Kind habe ich mit dieser Sichtweise gehadert.
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Beim Kultusministerium stellt sie einen Antrag auf Weiterbeschulung. Die Lehrer an der Sonderschule raten ihr ab: »Gülay, das schaffst du nicht!« Doch Gülay lässt sich nicht beirren. Um ihre Kenntnisse zu verbessern, besucht sie drei Mal in der Woche die Volkshochschule. Das ist äußerst anstrengend und ohne die Schwester, die sie immer begleitet, gar nicht möglich. Sie holt zunächst die Mittlere Reife nach und macht dann das Abitur. Danach beginnt sie ein Psychologiestudium. Die junge Frau nimmt für sich das Recht in Anspruch, trotz schwerer Behinderung glücklich und zufrieden leben zu wollen. Eine Arbeit, die sie ausfüllt, gehört für sie dazu. Sie will einen Beruf, in dem man viel zuhören und reden kann, in dem man möglichst nicht schreiben muss. All diese praktischen Dinge erledigen ihre sieben Assistentinnen abwechselnd in einem 24-Stunden-Rhythmus: Körperpflege, Einkaufen, Essen zubereiten. Nur dadurch ist es ihr möglich, in einer eigenen Wohnung zu leben.

2004 wird sie mit ihrem Studium fertig. Doch niemand traut ihr zu, als Psychologin arbeiten zu können. Um sich dennoch praktische Erfahrungen anzueignen, ist sie ehrenamtlich als psychologische Beraterin tätig. Vier Jahre später endlich bekommt sie die Möglichkeit, ein Praktikum in einem Krankenhaus zu absolvieren. Aber wenn es darum geht, diese Praktikumsstelle in eine feste Stelle umzuwandeln, steht die Frage im Vordergrund, ob die Patienten ihre schwere Behinderung akzeptieren werden. Das Glück kommt ihr zu Hilfe. Ein Therapeut wird längerfristig krank und Gülay muss ihn vertreten. »Mein Chef hat schnell gemerkt, dass die Patienten sich bei mir aufgehoben fühlen.« Und so erhält sie eine befristete halbe Stelle.

Der Erstkontakt mit den Patienten sei sehr unterschiedlich. Gerade türkische männliche Patienten seien mitunter verblüfft, einer Psychologin mit einer Behinderung gegenüberzusitzen. »Und dass ich ihre Sprache spreche, ist eine enorme Hilfe in der Behandlung – das wissen auch die Ärzte in der Klinik.« Deutsche Patienten würden sich hingegen mitunter schämen, weil sie merken, »dass ich eine Krankheit habe, die ihnen viel dramatischer erscheint als ihre eigene. Aber das kann man nicht vergleichen. Diesen Patienten muss ich den Druck nehmen.«

Dabei versucht die Diplompsychologin, Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen ihren eigenen Erfahrungsschatz nahezubringen; zu erzählen, wie man mit einer Behinderung lebt. Schmerzhaft bleibt für die sympathische, allein lebende Frau, dass ihre Mutter sie zwar bei all ihrem Streben nach Selbstständigkeit unterstützt habe. Aber den Wunsch ihrer Tochter, so zu leben wie jede andere Frau auch, kann sie nicht wirklich nachvollziehen. »Die Ängste meiner Mutter haben mich jahrelang gehemmt. Sie kann nicht verstehen, dass ich trotz dieser starken Behinderung ein glückliches und selbstbestimmtes Leben führen will.«

Gülay gesteht, dass es sie enorm viel Kraft gekostet hat, sich selbst zu akzeptieren. Inzwischen fühlt sie sich dennoch erleichtert. Nicht nur, weil im Oktober 2009 ihre befristete Stelle tatsächlich in eine unbefristete umgewandelt wurde. »Ich habe begriffen, dass die Behinderung zu mir gehört, ich kann sie nicht wegmachen.« Wichtig seien in diesem Prozess die vielen Gespräche mit einer Freundin gewesen, die ähnliche Probleme habe, obwohl sie nicht behindert ist. »Es hilft, die Dinge einmal aus der Vogelperspektive zu betrachten. Das Gefühl, nicht genügen zu können, haben viele Menschen, und zwar unabhängig von einer Behinderung.«

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