Alternativen zum Wachstumsindikator BIP

Ökologische und soziale Entwicklungsziele brauchen einen geeigneten Erfolgsmaßstab

Es ist längst ein Gemeinplatz, dass das ökonomische Wachstumskonzept an seine Grenzen gestoßen ist. Doch was kann aus dieser Sackgasse führen – ein grüner Kapitalismus, eine sozial-ökologische Umwälzung oder Konsumverzicht? Erstmals führt eine Veranstaltung die unterschiedlichen Debatten dazu zusammen: der Attac-Kongress »Jenseits des Wachstums?!« vom 20. bis 22. Mai in Berlin.
Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) kriegt sich seit einiger Zeit angesichts der jüngsten Wachstumsraten beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) nicht mehr ein: Erst lancierte er das Bonmot vom »XXL-Aufschwung«, dann prahlte er, Deutschland habe die »Sieben-Meilen-Stiefel« angezogen.

Wie in der Märchenwelt geht es freilich in der Wirtschaft nicht zu. Und so kann die jüngste Erholung nach der Rezession im Zuge der Finanzkrise nicht darüber hinwegtäuschen, dass die durchschnittlichen BIP-Wachstumsraten in den Jahrzehnten seit dem Nachkriegsboom immer weiter zurückgegangen sind. Was wiederum kein Wunder ist: Je höher die Gesamtmenge aller Güter gewachsen ist, umso mehr benötigt man, dieselbe prozentuale Steigerung zu erzielen. Werden 1000 Tonnen Stahl produziert, braucht es 10 Tonnen zusätzlich für ein Ein-Prozent-Plus. Werden hingegen 1 Millionen Tonnen hergestellt, braucht es dafür zusätzlich 10 000 Tonnen. Der zusätzliche Energie- und Rohstoffbedarf ist verbunden mit einer entsprechend großen Umweltzerstörung durch Bergbau oder den Ausstoß von Klimagasen. Der Indikator BIP blendet diese Kehrseite völlig aus.

Daher wird verständlich, dass so gemessenes Wachstum immer mehr Menschen – Umweltgruppen, Kapitalismuskritikern und Wissenschaftlern – nur noch Sorge bereitet. Seit zwei bis drei Jahrzehnten wird unter Experten über Alternativen zum BIP diskutiert, doch die Politik sah lange Zeit keinen wirklichen Handlungsbedarf. Erst in letzter Zeit gibt es hie und da Bewegung: So müssen ab 2012 alle Mitgliedsländer der EU Daten für ein Ökosozialprodukt an das Statistikamt Eurostat liefern.

Doch neben ökologischen gibt es auch soziale und ökonomische Probleme mit dem weltweit gängigen Wachstumsindikator. Das BIP gibt den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand eines Landes wieder, sagt aber nichts über dessen Verteilung aus. Hinter einer abstrakten Steigerungszahl kann sich daher verbergen, dass eine kleine Minderheit immer größeren Wohlstand anhäuft, während es vielen schlechter geht. Ferner sagt das BIP nichts darüber aus, ob das Wachstum noch der Bedürfnisbefriedigung der Menschen dient. Und schließlich basiert der wertmäßig gemessene Wohlstand zunehmend auf fiktiven Marktpreisen oder ist schuldenfinanziert, was das BIP ebenfalls ignoriert.

Die Diskussion über alternative Indikatoren ist indes nicht nur etwas für Statistiker. Sie ist auch wichtig für die Debatte über Alternativen zum bisherigen Wachstumsmodell in den Industriegesellschaften und neue nachhaltige Entwicklungsziele. »Um Erfolg oder Misserfolg dieser anderen Ziele zu messen, wären dann auch andere Indikatoren erforderlich«, schreiben der Volkswirt Hans Diefenbacher und der Umweltforscher Roland Zieschank in ihrem Buch »Woran sich Wohlstand wirklich messen lässt« (oekom-Verlag, 2011, 109 S., 12,95 Euro). Sie haben einen ausgeklügelten Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI) entwickelt, der aus ihrer Sicht die Chance eröffnet, »andere Quellen des Wohlstands und der Wohlfahrt zu erkennen und zu stärken, etwa eine gerechtere Einkommensverteilung, den Wert sozialer Netzwerke und bürgerschaftlichen Engagements, die Minderung von Umweltbelastungen und des Verbrauchs nicht erneuerbarer Ressourcen«.

Teil 3 der Serie am kommenden Mittwoch beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Spielarten von Wachstumskritik.
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