Dschungel mit Brombeeren, Disteln und Schlangen

Eine Reise zu Max Frisch – am 15. Mai wäre er hundert geworden

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 10 Min.
Uwe Stolzmann mit Karin Pilliod in Berzona

Uwe Stolzmann, geboren 1959 in Berlin (Ost), studierte Geschichte und Lateinamerikanistik an der Universität Rostock. Von 1987 bis 1991 war er Redakteur in der Zeitung »Neues Deutschland«, danach freiberuflicher Autor. Seit 2001 lebt Uwe Stolzmann mit seiner Familie in der Schweiz. Als Journalist und Buchkritiker arbeitet er u. a. für die »Neue Zürcher Zeitung«, für »Neues Deutschland«, Deutschland Radio Kultur und die ARD und unterrichtet u.a. an der Schweizer Journalistenschule in Luzern.
Uwe Stolzmann mit Karin Pilliod in Berzona Uwe Stolzmann, geboren 1959 in Berlin (Ost), studierte Geschichte und Lateinamerikanistik an der Universität Rostock. Von 1987 bis 1991 war er Redakteur in der Zeitung »Neues Deutschland«, danach freiberuflicher Autor. Seit 2001 lebt Uwe Stolzmann mit seiner Familie in der Schweiz. Als Journalist und Buchkritiker arbeitet er u. a. für die »Neue Zürcher Zeitung«, für »Neues Deutschland«, Deutschland Radio Kultur und die ARD und unterrichtet u.a. an der Schweizer Journalistenschule in Luzern.

Leser sind wunderliche Wesen. Ich hörte von einem, der eines toten Dichters wegen ins Tessin fuhr, von Locarno hinauf ins Valle Onsernone, fünfzehn Kilometer verwegener Kurven, unten der Lago und über ihm die Ödnis der Kastanienwälder, in ein Dorf mit grau geduckten Häusern; ein Dorf am Hang, verwinkelt, verwaist, das er einmal hinauf und hinab ging, ohne jenes eine Haus zu finden (im Ortskern entdeckte er nur Anderschs Anwesen und weit oben das von Golo Mann); der Besitz des Dichters – aha! – lag gleich am Ortseingang, das Türchen zum Garten war offen, ein Haus aber nicht zu sehen in diesem dichten Grün hangabwärts; er ging Stufen hinab mit der leisen Angst, dass gleich jemand käme, etwa ein älterer Herr, verärgert, mit Brille und Pfeife, doch hinter Bäumen und Büschen erschien nur das Haus, ein Urzeittier, schuppig, gepanzert, ein Haus mit Steindach und himmelblauer Tür und einem Klingelschild, auf dem sein Name stand, ganz so, als wäre er eben nur kurz fort: MAX FRISCH.

Niemand kam. Ich sammelte ein paar Kastanien, ich saß ein Weilchen an seinem Granittisch und schaute in die Schlucht, damals, 2001, und sicher hatte ich ein Buch dabei, das auch von diesem Ort erzählte. Blaues Leinen, weißer Umschlag mit Namenszug, »Erzählende Prosa 1939-79«, knapp 700 Seiten. Eine geballte Ladung Frisch: die »Blätter aus dem Brotsack«, das »Dienstbüchlein«, die zwei »Tagebücher« (bereinigt um politisch verfängliche Stellen), »Wilhelm Tell für die Schule«, »Montauk« sowie, am Ende, »Der Mensch erscheint im Holozän«, jene bittersüße Erzählung des alternden Max Frisch über einen einsamen Alten in einem Tessiner Bergdorf. Ich las: Der Sammelband sei eine Lizenzausgabe für die DDR; 1. Auflage: »Volk und Welt, Berlin 1980«. Ich las (eine Passage aus Frischs erstem Tagebuch, 1966, »Berzona«): »Das Dorf, wenige Kilometer von der Grenze entfernt, hat 82 Einwohner, die Italienisch sprechen. Jeder Gast aus den Städten sagt sofort: Diese Luft! dann etwas bänglich: Und diese Stille! Das Gelände ist steil: Terrassen mit den üblichen Trockenmauern, Kastanien, ein Feigenbaum, der Mühe hat, Dschungel mit Brombeeren, zwei große Nußbäume, Disteln usw. Man soll sich hüten vor Schlangen. Als Alfred Andersch, schon seit Jahren hier wohnhaft, auf das kleine Anwesen aufmerksam machte, war das Gebäude verlottert ...«

Dies ist eine Geschichte vom Schreiben und Lesen und von der Heimat in der Literatur. Die Lebensgeschichte des Schreibers Max Frisch spielte zu einem guten Teil an diesem Ort im Tessin; er bezog das Haus 1965, er ließ es umbauen, er nutzte es bis vor seinem Tod. Der Weltbürger aus Zürich liebte große Städte, Rom, New York, Berlin, die Luft der Metropolen befreite ihn vom Mief der Zürcher Enge, doch aus den Metropolen floh er in dieses Bergdorf, Berzona, in das Haus mit Granitdach, den Garten mit Granittisch, in sein Studio, das ein Ziegenstall gewesen war.

Eine Geschichte vom obsessiven Lesen kann überall beginnen, die hier begann 1980 in einer Kaserne der DDR-Provinz. Der Alltag war feldgrau, nur Drill und Schikane, als ich drei Sätze las, die den Tag veränderten: »Disziplin – man verstand schon, was das Militär darunter versteht; nur hat das mit Disziplin wenig zu tun. Das Militär verwechselt Disziplin mit Gehorsam. Disziplin hat mit Überzeugung zu tun, mit Gewissen, sie hat mit Mündigkeit zu tun.« Das war subversiv, ein Aufruf zum Aufruhr! Es war das »Dienstbüchlein« aus »Erzählende Prosa«, ein Bericht über das Soldatsein im Weltkrieg. Der Verfasser war mir unbekannt, wo er herkam, interessierte wenig. Die Schweiz? Ein weißer Fleck, so leer und weiß wie Westberlin auf den Karten meiner zerrissenen Heimatstadt. Worüber ich damals auch nicht nachdachte: Wer druckte solche Texte 1980 in einem DDR-Verlag? –

Ein Zeitsprung: Wiederitzsch in Sachsen, Anfang 2011. Ich sehe ein Dorf in Auflösung, Gewerbe auf nacktem Acker, Autohäuser neben müden Villen und später Pflasterstraßen, Hofmauern, leere Scheunen, seit ein paar Jahren gehört der Flecken zu Leipzig. Ein Besuch zur Kuchenzeit, der Gastgeber bringt Eierschecke und Bienenstich, »Greifen Sie zu«, sagt er, »noch eine Tasse Kaffee?« Das also ist er: der Mann, der Frischs Texte in die DDR geschmuggelt hat. Ein kleiner Mann, schmal und sanft. Roland Links, geboren 1931 in Tschernowitz, Bukowina; als Germanist seit 1954 bei Volk und Welt, 23 Jahre war er dort. Der Lektor durfte auch Bücher aus dem Westen lesen. Zu einem Grunderlebnis, so erzählt er, wurde Frischs »Stiller«. »Der Roman lebt davon, daß dieser Stiller behauptet, nicht Stiller zu sein. Ich empfand ihn als mir verwandt, ich war der Wurzellose, und ich glaube, dass diese Frage ›Wer bin ich?‹ damals meine ganze Generation betraf.«

Links wollte Frisch in der DDR bekannt machen. »Stiller« – bei Suhrkamp 1954 publiziert – sollte den Anfang machen; der Lektor plante den Titel für das Jahr 61. Doch ein Verlagskollege, »IM Michel Roiber«, verpetzte das Buch bei der Stasi als »ideologisch zweifelhaft«. In einer Notiz für Mielkes Männer beklagte der IM, »dass der Held einstmals ein, wie es heißt, ›romantischer Kommunist‹ war. Was ist aus ihm geworden? Ein haltloser Bourgeois. Ich empfehle, das Buch zu überprüfen.« IM Roiber hatte Erfolg; »Stiller« beschäftigte hohe Gremien von Staat und Partei, dann verschwand der Roman im Giftschrank. Erst 1975 wurde das Buch in der DDR publiziert, mit einem ideologisch unverdächtigen Nachwort von Roland Links. Gesamtauflage im Osten: über 50 000.

Andere Bücher Frischs erschienen seit Mitte der Sechziger ohne Probleme. Und ein Buch – das Stück »Biografie: Ein Spiel« – sollte Autor und Lektor zusammenbringen. Wieder war ein Nachwort vorgesehen, und auch dieses Nachwort eines Germanisten geriet ideologisch sauber, so sauber, dass Max Frisch – gegen alle Bräuche der Zunft – beim Verlag intervenierte. Für die östliche Sicht auf sein Werk hatte der Schweizer damals nur ein Wort: »pfäffisch«. An einem Januartag in Wiederitzsch zeigt Roland Links den bösen Brief aus der Schweiz, ein Schreiben vom März 1969: »Hier protestiert Max Frisch, es käme ihm komisch vor, wenn der Leser jede Frustration – es geht in dem Stück um Eheprobleme – als grundsätzliche Kritik am Kapitalismus verstehen soll.«

Schreiben gingen hin und her. Der Tonfall war freundlich, bald innig, intim. Frisch an Links: »Lieber Roland! Es holt mich etwas ein, wenn ich von dir höre, daß der STILLER in deine Biographie eingegriffen hat; ich beneide dich darum. Das ist, du verstehst mich, etwas anderes als Ruhm. Etwas Bestürzendes: als habe ich etwas niedergeschrieben, was ich nicht verstanden habe, denn sonst hätte es mein Leben verwandelt. Ich bin sehr glücklich über deinen schweren Brief. Herzlich dein Max.«

Nur Monate nach den ersten Briefen durfte Lektor Links den Autor in der Schweiz besuchen, in Berzona, an einem hellen Vormittag des Jahres 1970. Frischs Frau erwartete ihn, Marianne. »Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, sagte Marianne, der Meister – nein, nicht der Meister – Max Frisch säße noch im Ziegenstall und arbeite. Und als er endlich zu uns kam, war ich verwirrt. Fast hätte ich gesagt: Hilfe, da kommt mein Vater! Er hatte sofort die Befehlsgewalt. Er entschied, worüber gesprochen wurde. Die Sonne schien, wir saßen an einem Steintisch, und ich war nur fasziniert von diesem imposanten Mann.«

Die beiden wurden Freunde. Und sie blieben es bis zu Frischs Tod 1991. – Er habe mich vor unserem Treffen verflucht, sagt Roland Links zwanzig Jahre später an einem Nachmittag in Wiederitzsch. Verflucht? Ja. Weil die Fragen nach Frisch Unruhe in sein Rentnerdasein gebracht hätten. Aber jetzt ... Jetzt habe er jene Briefe wiedergelesen. Jetzt fühle er sich gut – glücklich über die Fährten einer fernen Freundschaft. »Ich beneide Sie um diese Freundschaft«, sage ich. »Ach wissen Sie», erwidert Roland Links, »auch ich beneide mich – den jungen Mann, der ich damals gewesen bin.« –

Ein paar Wochen später; Berzona im Vorfrühling 2011. Es ist ein heller Tag, mit Schneeglöckchen und ersten Vögeln, in der Ferne leuchten die Alpen. Es riecht nach Erde, Fluss und Moos. Ich passiere die Pforte, gehe Stufen hinab, sehe das Haus, die blaue Tür, in der Tür eine Frau: Karin Pilliod, Frischs letzte Lebensgefährtin; sie war Heilpädagogin, Therapeutin, die 75 Jahre merkt man ihr nicht an. Sie kannte den Dichter schon als Mädchen; ihre Mutter und der Meister waren in den Fünfzigern ein Paar. Karin Pilliod aus Thalwil bei Zürich ist derzeit oft im Tessin, Vorsicht, Bauarbeiten!, die Rohre sind verrostet, die Grundmauern feucht. Frau Pilliod zeigt das Haus, die Schreibklause im Ziegenstall, den Garten. Dann sitzt man am Steintisch mit Blick in die Schlucht, es gibt Morchelpastete, Amaretti und Wein, es gibt Antwort auf jede Frage. Wann waren Sie das erstemal in Berzona? »Schon 1965. Und dann immer wieder, in den Ferien, mit meinem Mann Philippe und unseren Kindern.« Wie haben Sie und Frisch 1983 zueinandergefunden? »Ich war nach der Scheidung erneut mit Philippe zusammen, doch es ging nicht. Da hat Max Frisch mich nach Berzona eingeladen. ›Hier können wir alles besprechen‹, sagte er, ›unseren Liebeskummer.‹« Was hat Sie angezogen? War dieser Frisch nicht ein schwieriger Mann mit wechselnder Stimmung und legendären Wutausbrüchen? »Die gab es. Aber nicht mir gegenüber.« Feinfühlig sei er gewesen. »Das beschreibt er ja selbst, wie er die Damen betörte. Und sein Humor war bestechend. Den liebte ich schon als Kind.« – Man sieht die Spuren seines Wirkens, wenn man in den Garten schaut: Bambus am Rand der Terrassen, er hat ihn gepflanzt. Und diese Bambusstauden wuchern, »ein Ärgernis«, sagt Frau Pilliod. Ärgerlich wie die ungebetenen Besucher, die bisweilen aufs Grundstück vordringen würden, die Frisch-Leser. Oder die Rehe, die erst paarweise in den Garten kämen und dann mit ihrem Nachwuchs. »Sie fressen alles weg. Wenn ich rufe, schauen sie mich an, als ob ich hier falsch wäre.«

In einem von Frischs berühmten Fragebögen heißt es: »Wissen Sie, wo Sie begraben sein möchten?« Max Frisch wollte kein Grab. »Die Asche wird verstreut irgendwo« – so hat er es bestimmt, und so ist es geschehen, an einem Abend in Berzona. – Abschied vom Tessin, Gute Reise! Frau Pilliod gibt mir etwas mit auf den Weg: drei Amaretti, eine Umarmung, zwei Kamelienknospen an kurzem Stiel. »Behandeln Sie sie gut, dann werden sie blühen.«

Max Frisch, geboren am 15. Mai 1911 in Zürich, gestorben am 4. April 1991 ebenda. Zwischen Geburts- und Sterbehaus liegen nur ein paar hundert Meter, achtzig Lebensjahre in einem Fußweg von fünfzehn Minuten.

Eine Biografie der Brüche: Studium der Germanistik – abgebrochen; die frühe Berufung zum Schriftsteller – verleugnet; der Wunsch, als Architekt bürgerlich zu leben – widerrufen; der Versuch, durch Heirat aufzusteigen ins Großbürgertum – abgebrochen. Mitte der Fünfziger, nach dem Erfolg von »Stiller«, kappt Frisch alle Seile, verlässt die Familie, flieht aus Zürich in die Welt.

Legendär sind Frischs Frauengeschichten: 1942 Hochzeit mit Gertrud Constance von Meyenburg, drei Kinder, Scheidung 1959. 1952-58 die Beziehung zu Madeleine Seigner-Besson, Schwester von Benno Besson, Mutter von Karin Pilliod. 1958-62 die Zeit mit Ingeborg Bachmann. 1962 kommt Marianne Oellers, Studentin aus Düsseldorf, 28 Jahre jünger als er; Hochzeit 1968, Scheidung 1979. April 1974: Affäre mit der Amerikanerin Alice Locke-Carey. Ab 1980 leben Max und Alice zusammen. Von 1983 bis zu Frischs Tod ist Karin Pilliod seine Gefährtin.

Für Frisch-Einsteiger:
»Tagebuch 1946-1949« und »Tagebuch 1966-1971«. Suhrkamp Verlag.

Für Ohrenmenschen:
Ingo Starz (Hg.): Max Frisch. »Nicht weise werden, zornig bleiben«. Ein Porträt in Originalaufnahmen. 2 O-Ton-CDs.
Max Frisch: Stiller. Hörspiel, 3 CDs.
Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein. Hörspiel, 3 CDs.

Alle Hörverlag, München.

Für Augenmenschen:
Max Frisch. Filme, Porträts, Interviews. 5 DVDs, u. a. mit dem Schlöndorff-Film »Homo faber« von 1991. Filmedition Suhrkamp.

Für Wissensdurstige:
Julian Schütt: Max Frisch. Biographie eines Aufstiegs.
Volker Hage (Hg.): Max Frisch. Sein Leben in Bildern und Texten. Beide Suhrkamp.
Volker Weidermann: Max Frisch. Sein Leben, seine Bücher. Kiepenheuer & Witsch.


Frisch auf dem Sofa von Roland Links
Frisch auf dem Sofa von Roland Links

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.