Immer wieder klopft das Herz aus Angst

Gastkolumne von Bärbel Schindler-Saefkow

  • Lesedauer: 3 Min.
Die Historikerin ist Tochter der Widerstandskämpfer Anton und Aenne Saefkow. ND-
Die Historikerin ist Tochter der Widerstandskämpfer Anton und Aenne Saefkow. ND-

In den zurückliegenden 66 Jahren habe ich an unzähligen eindrucksvollen und sehr unterschiedlichen Veranstaltungen aus Anlass des Jahrestages der Befreiung vom Hitlerfaschismus teilgenommen. So verschiedenartig diese Begegnungen waren – und sie fanden ja auch für mich immer in einem anderen Lebensalter statt –, manche Tagesgedanken bleiben stets ähnlich. Immer öfter klopft mir das Herz aus Angst, dass die Lehren dieses Krieges und des besiegten Faschismus in Vergessenheit geraten oder verfälscht werden könnten. Die Orte Brandenburg an der Havel, wo mein Vater im Zuchthaus ermordet wurde, und Ravensbrück, wo meine Mutter auf dem Todesmarsch gemeinsam mit Hunderten anderen von der Roten Armee befreit wurde, spielen in dieser Erinnerung für mich persönlich eine besondere Rolle.

Eine Fahrt zur Gedenkstätte Ravensbrück im Jahre 1985 ist mir unvergesslich geblieben. Ein sowjetisches Dokumentarfilmteam war auf einer Reise durch ganz Europa, um Geschichten über die Befreiung vom Faschismus aufzuzeichnen. Sie wollten auch über Ravensbrück erzählen. Man fand keine ehemalige Häftlingsfrau, die Zeit hatte. Da schlug man der Künstlergruppe vor, doch die Tochter einer Ravensbrückerin zu interviewen. Mehr zufällig nahm ich meinen damals zehnjährigen Sohn mit. Als wir uns mit dem Auto der Gedenkstätte näherten, hielten wir am Denkmal »Müttergruppe«. Ich erinnerte mich an die Diskussionen unter den Ravensbrückerinnen. Mutter zu sein, war immer etwas Besonderes für eine Ravensbrückerin, etwas, was die Frauen vieler Länder gemeinsam hatten. Sie erzählten einander von Fortschritten der kleinen Kinder und den Sorgen mit den Großen.

Die Skulptur von Fritz Cremer zeigt drei Mütter und zwei Kinder: ein totes und ein schutzbedürftiges lebendes Kind. Alle fünf zusammen bilden diese ungewöhnliche Gemeinschaft, die man »Müttergruppe« nannte. 1985 aber war ich nun selbst schon lange Mutter von zwei Söhnen. Wir stiegen aus dem Kleinbus. Die Regisseurin und Kameraleute baten mich gemeinsam mit meinem Sohn vor das Denkmal. Mir wurde ein Mikrofon gegeben und man fragte mich, was ich den Müttern des Jahres 2000 über die Frauen von Ravensbrück sagen möchte. Das war eine zugespitzte, sehr tiefgehende Frage. Ich weiß nicht mehr genau, was ich so – frei ohne Vorbereitung – geantwortet habe. Es ist mehr als 25 Jahre her. Bestimmt habe ich mich angelehnt an das, was ich von meiner Mutter über die Wünsche der Ravensbrücker Frauen erfahren hatte. Insbesondere den Gedanken, dass die Frauen, die überlebt haben, es als ihre Verpflichtung ansahen, für das Glück aller Kinder einzutreten, habe ich nie vergessen.

Obwohl das Jahr 2000 schon Vergangenheit ist, denke ich über diese Frage immer wieder neu nach. Wenn ich heute mit Gästen auf dem Weg nach Ravensbrück bin, erzähle ich die Geschichte dieser so besonderen ausdrucksstarken Skulpturengruppe, es ist geronnene Frauengeschichte. Dann stelle ich mir selbst und auch anderen die Frage, was man den Müttern von 2050 auf ihren Lebensweg mitgeben sollte. Der Jahrestag der Befreiung vom Faschismus 2011 ist ein Anlass, wieder darüber nachzudenken.

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