Kann Vitamin A die Sehkraft stärken?
Das wusste man auch schon vor 25 Jahren. Bis dahin hatten HNO-Ärzte leidende Tinnitus-Patienten mit dem Präparat Rovigon behandelt, einer Kombination der Vitamine A und E. »Doch dann zeigte sich, dass gerade Vitamin A Veränderungen im Innenohr verursacht«, berichtet Iro. Das war das Ende der Therapie.
Schon 1935 zeigte Sir Edward Mellanby, dass es bei Vitamin-A-arm ernährten Hunden im Innenohr zu Knochenneubildungen kommt, die den Hörnerv schädigen. Seine Versuche wurden bis 1950 von einer Reihe von Forschern bestätigt. Zur damaligen Zeit war das Antibiotikum Streptomycin noch Mittel der Wahl bei einer Reihe von Erkrankungen, zeigte aber Nebenwirkungen im Ohr. Die Hoffnung, Patienten durch Vitamin A-Gaben davor zu schützen, bestätigte sich im klinischen Versuch. Daraus wurde abgeleitet, dass Vitamin A vor Schwerhörigkeit und Tinnitus schützt. Insbesondere bei Altersschwerhörigen (Leschke, Cuxhaven, 1950) und lärmgeschädigten Fabrikarbeitern (Willemse, Antwerpen, 1952) sollte Vitamin A das Gehör normalisieren. Dieser Frage ging 1979 in Deutschland Prof. Erwin Löhle mit einigen Kollegen nach. "Chole und Biesalski konnten zunächst an Meerschweinchen zeigen, dass die Vitamin A-Konzentration im Innenohr genau so hoch wie in der Leber war", berichtet er. Das ermutigte zu weiteren Experimenten mit Tieren. Vergleichende Hörtests mit Vitamin A-Mangel Tieren und solchen, die das Vitamin bekamen ergaben zwar keine Verschlechterung der Hörfähigkeit in der ersten Gruppe, es zeigte sich aber, dass sich die Tiere der zweiten Gruppe nach Lärmexposition rascher erholten", erinnert sich Löhle.Vitamin A hatte also tatsächlich einen Effekt. Wissenschaftler versuchten, Genaueres herauszufinden. Sie erkannten, dass Leber- und Nierenkranke und Patienten mit Morbus Crohn infolge von Vitamin A- und Zink-Mangel schlechter hören. Die Gabe von Vitamin A verbesserte zwar nicht das Hörvermögen, aber man hoffte, dass durch eine relativ niedrige Dosis der Vitamine A und E sowie Zink eine Verlangsamung von Alterungsprozessen im Ohr möglich sei. Hohe Dosen seien insbesondere für Leberkranke gefährlich, Nierenkranke hätten ohnehin eine hohe Vitamin A-Konzentration. Löhles Fazit: »Vitamin A heilt weder Schwerhörigkeit noch Tinnitus. Es ist kein Jungbrunnen für Hörzellen. Allenfalls in Kombination mit Vitamin E, Beta Carotin und Zink entfaltet es antioxidative Wirkung, schützt oberflächliche Zellen und verlangsamt möglicherweise Krankheitsprozesse im Ohr«.
Die antioxidative Wirkung von hochdosierten Vitaminen, also ihre Fähigkeit zellschädigende freie Radikale zu eliminieren, ist bis heute aber umstritten. »Nur in niedriger Dosis können sie einige Radikale unschädlich machen. In hoher Dosis wirken sie sogar umgekehrt«, sagt beispielsweise der Lebensmittelchemiker Udo Pollmer. Ein Beweis zeigt sich bei Rauchern. Naturgemäß haben sie einen niedrigen Beta Carotin-Spiegel (die Vorstufe von Vitamin A) und viele Freie Radikale im Blut. Beides galt jahrelang als Ursache für Lungenkrebs und höhere Sterblichkeit. Durch Gabe von Beta Carotin und Vitamin A sollte dies verhindert werden. Doch drei große Studien belegten die Nutzlosigkeit. Im Gegenteil: Die Krebs- und Infarktrate stieg sogar an, weshalb die Caret-Studie 1996 vorzeitig abgebrochen wurde. Aber immer noch werden »Raucher-Vitamine« in Drogerien und Apotheken angeboten.
Hartnäckig hält sich auch das Gerücht, das Vitamin könne die Sehkraft stärken. Dahinter verbirgt sich das Märchen vom Karotten futternden Hasen, der keine Brille braucht. Karotten haben dem Beta Carotin den Namen gegeben. Das daraus hervorgehende Vitamin A koppelt an ein Eiweiß und bildet Rhodopsin, das das Sehen bei schwachem Licht ermöglicht. Vitamin A-Mangel ist in der Tat Ursache für eine Reihe von Sehschwächen. Im Allgemeinen stellt er in Industrieländern aber kein Problem dar. Betroffen sind allenfalls Menschen mit Erkrankungen des Vitamin A-Speichers Leber, der Galle, der Bauchspeicheldrüse und Morbus-Crohn-Patienten. In den Entwicklungsländern aber haben alleine 300 Millionen Kinder einen Vitamin A-Mangel, von denen 500000 jährlich erblinden und 350000 sterben. Vitamin A ist nun mal eine lebenswichtige Substanz, die das Wachstum von Haut, Schleimhaut und Knorpelgewebe, den Sehvorgang, die fötale Entwicklung und die Produktion von Testosteron begünstigt und die Abwehr stärkt. Studien zeigen, dass in Entwicklungsländern durch zusätzliches Vitamin A die Sterblichkeit um 23 Prozent sinkt, weshalb inzwischen Getreide und Reis gentechnisch angereichert werden. Eine Anreicherung unserer Margarine halten Experten aber für sinnlos, da wir über die Nahrung bestens versorgt seien. Bedenken muss man auch, dass erhöhte Vitamin A-Spiegel trockene Haut, Lippenentzündungen, Knochen- und Gelenkbeschwerden machen und während der Schwangerschaft die Frucht schädigen können, weshalb werdenden Müttern vom Leberverzehr sowie unkontrollierter Vitamin A-Therapie abgeraten wird.
In der Augen- und Hautheilkunde hat sich das Vitamin indes bewährt. So ist der Nutzen von Vitamin A-Säure bei der Behandlung von Akne gesichert. Vor Vitamin A-Säure-Salben gegen Fältchen warnen Dermatologen allerdings, da die Hautoberfläche geschwächt und anfällig würde.
Wolfgang Kappler
Maria Holl: Tinnitus lindern, Jopp bei Oesch, Zürich 2002, 140 Seiten, 12,90 EUR, ISBN 3-0350-5005-8
Vitamine
Wasserlösliche Vitamine:
Vitamin B1 - Thiamin
Vitamin B2 - Riboflavin
Vitamin B3 - Niacin
Vitamin B5 - Panthotensäure
Vitamin B6 - Pyidoxin
Vitamin B7/H - Biotin
Vitamin B9 - Folsäure
Vitamin B12 - Cobalamine
Vitamin C - Ascorbinsäure
Fettlösliche Vitamine
Vitamin A - Retinol
Provitamin A - Beta-Karotin
Vitamin D2 - Ergo-Calciferol
Vitamin D3 - Cole-Calciferol
Vitamin E - Tocopherol
Vitamin K1 - Phyllochinon
Vitamin K2 - Menachinon
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