Leere Augen, weiße Kerzen

11. Jugendtheaterfestival »Augenblick mal!« in Berlin

  • Katja Kollmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Gewalt und Gewaltrausch: »A clockwork orange« des Jungen Theaters Konstanz
Gewalt und Gewaltrausch: »A clockwork orange« des Jungen Theaters Konstanz

Langsam stülpt sich jeder eine blonde Perücke über den Kopf. Dann schmieren sich alle rote Farbe aufs Gesicht. Acht Sinti und drei Schauspieler – sie stehen in einem Boxring in der Kreuzberger Heilig-Kreuz-Kirche und erinnern so an den letzten Boxkampf des Sinti Johann »Rukeli« Trollmann. Trollmann, dem der Titel des Deutschen Meisters aberkannt worden war, verlor seinen letzten Kampf, den er als Protest gegen die rassistische Politik der Nationalsozialisten in einer blonden Perücke bestritt. Mit der Inszenierung »Trollmanns Kampf – Mer Zirkales« gedenkt das Junge Schauspiel Hannover dieses in der Öffentlichkeit lange vergessenen Hannoveraners auf ungewöhnliche Weise – einer der Höhepunkte des 11. Kinder- und Jugendtheatertreffens »Augenblick mal!«, kürzlich in Berlin.

All zwei Jahre findet dieses Festival statt. Zehn Kuratoren, berufen vom Kinder- und Jugendtheaterzentrum der Bundesrepublik, sahen sich in den letzten beiden Jahren mehr als 300 Inszenierungen an und wählten jeweils fünf Kinder- und Jugendtheaterproduktionen aus. »Trollmanns Kampf« war in diesem Jahr das einzige eingeladene Stück, das den Schritt aus der Gegenwart in die Vergangenheit wagte, um quasi von dort mahnend wieder zurückzuwirken.

Zwei Inszenierungen, »Verrücktes Blut« des Berliner Ballhauses Naunynstraße und »A clockwork orange« des Jungen Theaters Konstanz, stellten Gewalt und deren Folgen sehr direkt auf die Bühne. Eine Pistole sowie eine Puppe im Gewaltrausch spielen dort die Hauptrolle. In »Frühlings Erwachen! (Live fast – die young)« des Heidelberger Kinder- und Jugendtheaters Zwinger 3 werden ewig aktuelle Probleme der Adoleszenz wie Einsamkeit, Selbstfindung und psychischer Druck einer feindlichen Außenwelt thematisiert.

In ihrem Reisebericht durch die Bühnenlandschaft fordern die kuratierenden Dramaturgen und Regisseure von den Theatern mehr künstlerischen und inhaltlichen Mut – sie konstatieren insgesamt einen Rückzug der Jugendtheater von politisch relevanten Themen. In seiner Bearbeitung des Wedekindschen Dramas »Frühlings Erwachen« etwa hat Nuran David Calis zunächst jeden direkten gesellschaftlichen Bezug eliminiert. Auch Regisseur Dominik Günther fügt dem Stück keine zusätzliche gedankliche, ins Heute greifende Ebene hinzu.

Aber er liefert die Personen konsequent dem Bild aus, das sie der Außenwelt präsentieren wollen. Tragische Witzfiguren bevölkern so die bis auf einen Holzsteg und einem Kinderplanschbecken leere Bühne. Im ultrakurzen Minirock erklimmt eine Blondine mit aberwitzigen Verenkungen den Steg. Einer stellt sich breitbeinig vor die Mädels und macht sie an, obwohl er eigentlich Jungs mag. Und es scheitert ausgerechnet derjenige und geht aus der Welt, der am meisten bei sich selbst war. Das ist dann doch ein leiser, aber unüberhörbarer Kommentar zu gegenwärtigen Realitäten aus Entfremdung und Beziehungsfrösten. Moritz' Kopf quälend lang im gefluteten Planschbecken – ein Bild, das einen lange nicht loslässt.

Laut kommentieren »Verrücktes Blut« und »A clockwork orange« unsere Welt. Es sind zwei schnelle, kurzweilige Inszenierungen. In »Verrücktes Blut« stehen überwiegend junge Schauspieler und Schauspieler mit »Migrationshintergrund« auf der Bühne und fordern in ihren Rollen sowie als reale Personen die Wertschätzung ihrer selbst und aller in diesem Land. In »A clockwork orange« wechseln die drei Schauspieler ständig die Rollen, die wiederum abwechselnd von Menschen und Puppen dargestellt werden. Während sich die Gewaltspirale auf der Bühne immer weiter dreht. Am Ende wird Alex, die Puppe, zum Versuchskaninchen einer Forschung, die medikamentös über das Böse im Menschen triumphieren will. Bevor er sich in die Behandlung begibt, nimmt Alex die Sonnenbrille ab. Leere Augen blicken verloren ins Nichts .

Am berührendsten aber, noch einmal, ist »Trollmanns Kampf«. Acht Sinti singen und reden über ihr Leben in Deutschland. Am Ende ist der Boxring mit Schwarz-weiss-Fotos von Rukeli Trollmann und seiner Familie behängt. Davor stehen große weiße Kerzen. Aus der Erzählung ist ein Requiem geworden. Die Inszenierung war nicht rasant, sie war nicht perfekt, sie lebte ganz von den Protagonisten, von ihrem Charme, ihrem Spaß an der Bühnenshow und ihrer Leidenschaft, über sich und einen der ihren aufzuklären.

Das Ballhaus Naunynstraße hat übrigens die Einladung zu diesem Festival abgelehnt. Man habe die Inszenierung nicht für Jugendliche konzipiert, war die offizielle Erklärung. Zuvor, beim Berliner Theatertreffen der Schauspielbühnen, war man dagegen gerne dabei. Koexistenz auf beiden Festivals ist demnach noch nicht möglich. Es ist eine Option für die Zukunft.

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