Detekteien der Gegenwart

Richard Kämmerlings durchleuchtet die deutsche Literatur

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 2 Min.

Was ist das nun für ein Buch, das Richard Kämmerlings (Jg. 1969), Leitender Redakteur im Feuilleton der »Welt« und »Welt am Sonntag« seit 2010, da geschrieben hat? Der Titel verheißt immerhin Großes, und der Untertitel deutet an, dass hier dem Leser eine Art Überblick über die zurückliegenden zwanzig Jahre deutschsprachiger Literatur geboten wird. Einmal abgesehen davon, dass – mit Hegel – bekanntlich nichts schwieriger ist, als seine Zeit (ob nun literarisch, wissenschaftlich-theoretisch oder essayistisch) in Gedanken zu erfassen, mithin Gültiges über laufende Prozesse auszusagen, krankt die Darstellung Kämmerlings im wesentlichen daran, dass sich hier ein Literaturkritiker oft im puren name-dropping übt und folglich Literaturmassen und Bücherberge statt nachgewiesener paradigmatischer Klasse offeriert werden.

In neun Kapiteln, die man mehr oder minder systematisch verstehen kann, wird die Literatur der letzten beiden Jahrzehnte durchgemustert: Da ist von der Berlin-Literatur und einer neuen Provinzialität ebenso die Rede wie von der Erinnerungskultur, den anhaltenden Existenzialien wie Liebe und Sex, Ehe und Familie, Tod und Sterben bis hin zur Auseinandersetzung mit der »sozialen Frage«. Dass Kämmerlings dabei ein gutes Gespür für gelungene Texte und ausgezeichnete Autorinnen und Autoren hat, steht außer Frage. Nur sollte er dies seinen Lesern auch zeigen – und zwar ausführlich, so, dass man auch argumentativ überzeugt wird. Nicht aber so: »Marion Poschmann reist im ›Schwarzweißroman‹ (2005) nach Magnitogorsk; Gernot Wolfram in ›Samuels Reise‹ (2005) nach Krakau; Jo Lendle schickt ›Die Kosmonautin‹ (2008) quer durch Russland bis nach Kasachstan, bis zur Weltraumbasis Baikonur und Michael Ebmeyer seinen »Neuling« ins südsibirische Kemenova. Der Osten ist immer noch die Terra incognita schlechthin.«

Kämmerlings grundsätzliche poetologische Einlassungen und Überzeugungen klingen leider dürftig, ja wiederholen andernorts vielfach Geäußertes, wenn da etwa von der Gegenwartsliteratur als »Erfahrungsdeutung« gesprochen wird oder insgesamt davon, dass Literatur im günstigsten Falle »meine Sicht auf die Welt ändert«. Welcher Autor, welcher Leser könnten dem nicht zustimmen?!

Die Best of-Liste aus den letzten fünfzehn Jahren zum Schluss umfasst zehn (überwiegend erwartbare) Titel von Marcel Beyer (1995) bis zu Clemens J. Setz (2009). Nur – noch einmal: An wen wendet sich eigentlich dieses Buch? Die Literaturprofis, Kritikerkollegen, Germanisten und andere Kenner der Szene, wissen's eh. Dass Kämmerlings damit eine breitere Leserschaft erreichen könnte, möchte ich aber bezweifeln. Dazu fallen seine Textbeobachtungen – diesseits gelungener Formulierungen wie »Die Literatur ist das Wikileaks des Zeitgeistes« – dann doch oft zu oberflächlich und holzschnittartig aus.

Richard Kämmerlings: Das kurze Glück der Gegenwart. Deutschsprachige Literatur seit 89. Klett-Cotta. 208 S., geb., 16,95 €.

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