Gefahr von oben

Am Hamburger Böttcherkamp sind die Mieter einer hohen Strahlenbelastung ausgesetzt

  • Volker Stahl, Hamburg
  • Lesedauer: 3 Min.
Seit 1968 leben Dieter (69) und Monika (64) Frei in einer SAGA-Wohnung am Hamburger Böttcherkamp in Lurup unter einer Hochspannungsleitung. Ihre gesundheitlichen Beschwerden führen sie auf die hohe Strahlenbelastung zurück, der sie seit Jahrzehnten ausgesetzt sind. In den Häusern unter den Masten gibt es eine auffällige Häufung von Krebserkrankungen.

Dieter Frei sitzt im Esszimmer. Aus dem Aktenordner zieht er einen handgeschriebenen Zettel mit neun Namen hervor. Hinter einigen ist ein Kreuz gemalt, wie es oft auf Grabsteinen zu sehen ist. Es ist ein Protokoll des Grauens. »Neun Personen in den Häusern 117, 127 und 129 sind in den letzten Jahren an Krebs gestorben«, erzählt der Rentner, »auch meine Frau und ich sind erkrankt.« Dieter Frei hat Prostatakrebs, seine Frau Monika leidet an Brustkrebs. Beide berichten von Schlafstörungen.

Behörden reagieren ratlos

Eine Studie der Universität Bern hat festgestellt, dass Personen, die mindestens 15 Jahre weniger als 50 Meter von einer Hochspannungsleitung entfernt wohnen, ein doppelt so hohes Risiko haben, an Alzheimer zu erkranken. Auch Kopfschmerz, Schwindel und Herzflimmern könnten bei extremer Elektrosmogbelastung auftreten, hatte in der 90er Jahren eine Untersuchungskommission unter der damaligen Bundesumweltministerin Angela Merkel festgestellt.

Doch offen gesprochen wird über das Thema selten. Wie mit den drohenden Gefahr umgegangen wird, zeigt das Beispiel der Schule Böttcherkamp, wo Monika Frei 30 Jahre lang als Reinigungskraft tätig war: »Wenn Pause war, spielten die Kinder nur auf einer Seite des Schulhofs – dort, wo keine Hochspannungsleitung war. Das zeigt doch, wie gefährlich das ist.«

Die Freis sind keine Panikmacher. Aber sie haben Angst. Wenn sie im Sommer auf ihrer gemütlich hergerichteten Terrasse sitzen und ins Grüne schauen, schwebt die 110 kV-Hochspannungsleitung wie ein Damoklesschwert über ihnen. Seit Jahren versuchen sich die Freis Gehör zu verschaffen – bei ihrem Vermieter SAGA-GWG, bei der Stadt, bei Lokalpolitikern. Doch die reagieren meist ebenso ratlos wie die Hilfesuchenden.

Frei zeigt Fotos aus Wohnungen im Haus, in denen bis vor Kurzem alte Leute gewohnt haben. Keine Einbauküche, abgenutzte Fußböden – mit »Charme der späten 1960er Jahre« ist der Zustand der Wohnungen noch wohlwollend beschrieben. Die Familie Frei dagegen hat 20 000 Euro in ihre 68,3 Quadratmeter große Wohnung investiert: Küche, Bad und Fußböden, alles neu gemacht. Und nun wegen der Strahlen ausziehen? »Ich werde im nächsten Jahr 70«, sinniert Frei, »soll ich jetzt alles auflösen, was ich mir in Jahren aufgebaut habe?«

Eine Situation zum Verzweifeln. »Die Mieter kommen nicht mehr zur Ruhe«, bedauert Wilfried Lehmpfuhl vom Mieterverein zu Hamburg. Hoffnung kam auf, als die Stadt im August 2008 endlich eine Strahlenmessung durchführen ließ. Das im Auftrag der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt ermittelte Ergebnis verunsicherte die Freis und ihre Nachbarn jedoch noch mehr.

Einerseits war der in der 26. Bundesimmissionsschutzverordnung (BImSchV) festgelegte Grenzwert weit unterschritten. Doch: »Verglichen mit der Verteilung der Werte der magnetischen Flussdichte in 1300 deutschen Wohnungen«, heißt es in dem Messbericht weiter, »sind die Messwerte in der Wohnung Böttcherkamp 129 deutlich erhöht.« Dann das Fazit des Gutachtens: »Nach dem Stand der aktuellen wissenschaftlichen Bewertungen« gebe es »keine Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen magnetischen Feldern in der hier nachgewiesenen Stärke und dem Auftreten von Krebs bei Erwachsenen«.

Einseitige Experten

Allein die Formulierung »bei Erwachsenen« lässt aufhorchen. Zahlreiche Studien deuten an, dass Kinder, die in der Nähe von Hochspannungsleitungen wohnen, häufiger Blutkrebs bekommen. So kam eine in Kalifornien durchgeführte Untersuchung zu dem Ergebnis, dass sich für Kinder, die dauerhaft einer Belastung von mehr als 0,4 Mikrotesla ausgesetzt sind, das Risiko einer Leukämie-Erkrankung bereits verdoppele.

Das Bundesamt für Strahlenschutz geht jedoch davon aus, dass erst ab einem Grenzwert von 100 Mikrotesla ein Gesundheitsrisiko durch Hochspannungsleitungen zu vermuten sei. BUND-Elektrosmogexperte Bernd Rainer Müller kritisiert: »Das sind Empfehlungen einer einseitig besetzten Expertenkommission.« Transparenz sei nicht gegeben.

Dieter Frei erstaunt diese Aussage nicht. Auch viele Experten trauen den Grenzwerten und der dadurch vorgegaukelten Sicherheit nicht. Als Frei den Prüfer von der Umweltbehörde fragte, ob er hier wohnen wollte, habe der entsetzt geantwortet: »Um Gottes Willen!«

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