Hinter den Dingen

Sciarrino-Oper:

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 2 Min.

Dem erfolgreichen italienischen Komponisten Salvatore Sciarrino ist mit seiner jüngsten, in Mannheim als Auftragswerk uraufgeführten Oper »Superflumina« ein Kunststück gelungen: der finsteren Realität eines Lebens in der Obdachlosigkeit sowie gleichermaßen dem poetischen Reiz des Genres Oper faszinierend nahezukommen. Ohne falsche wohlstandsbürgerliche Anteilnahme stellt er eine obdachlose Frau und ihr Leben am Rande der Gesellschaft in den Mittelpunkt. Die Frau ist in einem Bahnhof gestrandet, sieht von den Menschen vor allem die Schuhe, beobachtet in der Nacht die Ausbrüche von Gewalt, versteht es aber gleichwohl, trotz allem die zweite, poetische Natur hinter den Dingen zu sehen.

Bei Sciarrino wird dabei ein filigranes, der Stille abgerungenes Klanggewebe immer wieder von harten Signalen unterbrochen, die der Wirklichkeit entspringen. Da zerreißen metallische Maschinentöne für Momente das Gespinst aus Klängen, die wie in einem impressionistischen Nachtbild hingetupft sind. Da klirrt es wie zerspringendes Glas. Und da schwirren die mitgeschnittenen Ansagen aus italienischen Bahnhöfen durch eine Komposition, die es versteht, sich diese Geräusche einzuverleiben. Und irgendwann in der Mitte brechen aus der Frau drei betörend schöne Lieder heraus, die sie selbst (in ihrer tristen, dunklen Bahnsteigwelt) und den Zuhörer für Momente des puren musikalischen Glücks in eine betörend utopische Mittsommernacht entführen. Ganz unmittelbar und ohne jeden Anflug von abgehobener Kunstbehauptung.

Vielleicht muss man, wie Sciarrino, Italiener sein, um das so unprätentiös hinzubekommen!

Obendrein ist ihm als sein eigener Librettist ein hochpoetischer Text gelungen, bei dem sich das Mitlesen der deutschen Übertitelung des italienischen Gesanges lohnt. Bei Sciarrino wird die Mischung aus Bahnhofsrealität und Bibeltext (das Hohelied Salomos) etwas verzaubernd Eigenes. Die souverän mit dem perlenden Vokalstil umgehende Sopranistin Anna Radziejewska schafft es, dass man hinter der kalten Fassade dieser Welt die Poesie erkennt, die auch in den Dingen stecken könnte – wenn man sich aus jenen Zwängen löste, die all die anderen Menschen über die Schrägen von Anne Neusers unspektakulär passendem Bühnenbahnsteig treiben.

Regisseurin Andrea Schwalbach sorgt für einen sinnvollen szenischen Rahmen, sie lässt die bitteren Assoziationen schwingen, ohne mit der Betroffenheitskeule herumzufuchteln. Und weil Tito Ceccherini, am Pult des Mannheimer Orchesters, ein mit Sciarrino-Partituren bestens vertrauter Landsmann ist, kann ein rundherum gelungener Uraufführungsabend vermeldet werden.

Nächste Vorstellung: 1. Juli

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