»Eine riesige Repressionsmaschine«

Datenskandal in Sachsen weitet sich aus / Fast 800 000 Daten von Nazigegnern erfasst

  • Jörg Meyer
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Datenskandal in Sachsen weitet sich aus. Es war nicht die erste Funkzellenabfrage in großem Stil. Auch die ver.di-Jugend und das Bündnis »Dresden nazifrei« kündigten rechtliche Schritte an. Die Dresdner Behörden können mit etlichen Klagen und Auskunftsersuchen rechnen.

»Ich habe gedacht, ich habe im Halbschlaf George Orwells ›1984‹ zur Hand genommen und gelesen, als ich die Nachrichten gehört habe.« Das erzählte ver.di-Bundesjugendsekretär Ringo Bischoff gestern vor Journalisten in Berlin. Nachdem am Sonntag bekannt geworden war, dass die sächsischen Ermittlungsbehörden nach den Protesten gegen einen Naziaufmarsch am 19. Februar hunderttausende Datensätze von Handynutzern gesammelt haben, meldete sich das Bündnis »Dresden nazifrei«, das die Proteste maßgeblich organisiert hatte, zu Wort.

Neben Antifagruppen, Gewerkschaften, Parteien und Verbänden ist die ver.di-Jugend Mitglied im Bündnis. Die massenhafte Erfassung von Handydaten komme einer »pauschalen Massenverurteilung friedlicher Nazigegner gleich«, sagte Bischoff. »Was da in Dresden passiert ist, war Rechtsbeugung«, sagte Jenas Oberbürgermeister Albrecht Schröter (SPD), »und ich werde alle rechtlichen Mittel Ausschöpfen, um das aufzuklären.«

Auch »Dresden nazifrei« kündigte rechtliche Schritte an, »durch alle Instanzen und notfalls bis nach Karlsruhe«, sagte Bündnisanwältin Kristin Pietrzyk. Für sie ist die Abfrage von sieben Funkzellen in der Dresdner Südvorstadt ein schwerer Eingriff in die Demonstrationsfreiheit und die informationelle Selbstbestimmung. Wie jetzt zudem bekannt wurde, haben die eifrigen Ermittler noch mehr Daten gesammelt als die bisher genannten rund 138 000. Nach Informationen der »Freien Presse« geht es um 800 000 Verbindungsdatensätze – ein- und ausgehende Anrufe und SMS – von rund 17 000 Personen.

Und es war nicht die einzige Funkzellenabfrage, die in Dresden durchgeführt wurde. Nach einem Brandanschlag auf die Albert-Kaserne 2009 wurden 162 000 Datensätze zu Zahlungsvorgängen mit EC- und Kreditkarten in einem Baumarkt in der Neustadt mit Handydaten verglichen, um den Käufer einer Flasche Nitroverdünnung zu finden, die bei dem Anschlag Verwendung fand. Klingt beeindruckend – genützt hat es nichts. Täter wurden nicht gefunden. »Und trotzdem hat sich die Staatsanwaltschaft erdreistet, diese Maßnahme noch mal anzuwenden, obwohl sie nicht geeignet ist, etwas aufzuklären«, sagte Bodo Ramelow, Linksfraktionsvorsitzender in Thüringen. Erst werde der Aufstand der Anständigen ausgerufen, und dann laufe eine »riesige Repressionsmaschine an«, die »einzig der Abschreckung« diene. Doch das Bündnis stehe dadurch nur noch fester zusammen.

Der Sänger Konstantin Wecker, einer der vielen Prominenten, die sich an dem Bündnis beteiligen, sagte, Dresden sei für ihn »beinahe wie Stuttgart 21«. »Es geht um die Frage, wie die Demokratie mit Menschen umgeht, die sich nicht nur empören sondern Widerstand leisten. Wir sollten uns das nicht bieten lassen.«

In Sachsen stehen der Landesregierung einige unangenehme Sitzungen und den Behörden vermutlich eine Klageflut bevor. Am Montag tagen der Innen- und Justizausschuss gemeinsam. Dort will sich die schwarz-gelbe Landesregierung berichten lassen, was eigentlich alles gesammelt wurde und was damit passiert ist. Eine Belastung für die Koalition sehe er allerdings nicht, sagte der rechtspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Carsten Biesok, gegenüber ND. Die unterschiedlichen Positionen, beispielsweise zu Vorratsdatenspeicherung, seien bekannt. Die Vorfälle seien indes »ein Paradebeispiel dafür, dass die Vorratsdatenspeicherung nicht kommen darf«, so Biesok. Wecker und das Bündnis rufen nun zu Spenden auf, da die anstehenden Gerichtsverfahren einiges Geld kosten dürften. Der Schaden, den die Dresdner Datensammler der Demokratie zufügen, dürfte sich allerdings nicht in Gold aufwiegen lassen. Er ist riesig.

www.dresden-nazifrei.com

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