Postnationale Kettenreaktion

  • Robert Kurz
  • Lesedauer: 3 Min.
»In Europa tut man so, als wären die Schuldenkrisen Griechenlands und der anderen Wackelkandidaten hausgemacht.«
»In Europa tut man so, als wären die Schuldenkrisen Griechenlands und der anderen Wackelkandidaten hausgemacht.«

Im Kapitalismus sind nicht die Menschen vergesellschaftet, sondern die toten Dinge: Geld und Waren. Deshalb schnurrt die Wahrnehmung der Welt auf einen Punkt zusammen; auf das einzelne Individuum, den einzelnen Betrieb, den einzelnen Staat. Genauso atomisiert ist das Zeitbewusstsein. Was zählt, ist immer nur die Aktualität. Alles andere ist Schnee von gestern oder die Sintflut nach uns. Nicht in Epochen wird gedacht, sondern im Zeithorizont der »Tagesschau«. Zwar weiß man irgendwie, dass es komplexe globale Zusammenhänge gibt, vor allem ökonomische. Aber je mehr von »Vernetzung« die Rede ist, desto isolierter erscheinen die Tatsachen. Globalisierung schön und gut, aber ist das nicht ein Thema von vorgestern?

Seit die Staaten ihre Rettungspakete geschnürt haben, möchte man überall wieder die nationale Brille aufsetzen. Dass die Pleite von Lehman Brothers (war da mal was?) eine Kettenreaktion auslöste, die für einen Augenblick das weltweite Netz von faulen Krediten enthüllte, gilt als Exzess irgendwelcher vaterlandsloser Finanzmärkte. Unter dem Schutzschirm der Regierung und in den heimischen vier Wänden glaubt man sich gern in einer Welt von lauter patriotischen Ökonomien. In Wirklichkeit werden dieselben transnationalen Waren- und Geldströme, dieselben globalen Ungleichgewichte und Defizitkreisläufe wie zuvor jetzt durch Staatskredite subventioniert statt durch kommerzielle Finanzblasen. Und auch die Staatsgelder selber sind alles andere als national.

Weil der Kapitalismus als unverwüstlich gilt und die neue Qualität der Globalisierung verdrängt wird, scheint sich nur die Frage nach Auf- und Absteigern bei den Konzernen sowie nach nationalen Gewinnern und Verlierern zu stellen. Wird China die USA als ökonomische und politische Weltmacht ablösen? Diese »große Erzählung« der Medien ist realitätsblind, denn wir leben nicht mehr in einem Jahrhundert selbstständiger nationaler Imperien. Die erneut ansteigenden chinesischen Exportüberschüsse gegenüber den USA werden durch die Geldschwemme der US-Notenbank finanziert. Umgekehrt speisen die Chinesen ihr staatlich erzwungenes Binnenwachstum aus den as-tronomischen Devisenreserven, die vor allem in Dollars bestehen. Die wechselseitige Abhängigkeit ist so groß, dass jedes Straucheln des einen auch den anderen zu Boden gehen lässt. Weder einzeln noch gemeinsam kontrollieren sie ihren widersprüchlichen Zusammenhang.

In Europa tut man so, als wären die Schuldenkrisen Griechenlands und der anderen Wackelkandidaten hausgemachte Probleme, die durch nationale Sparanstrengungen bewältigt werden könnten. Tatsächlich sind die Defizite in der EU die Kehrseite der deutschen Exportüberschüsse. Müsste die deutsche Ökonomie sich auf den nationalen Binnenmarkt konzentrieren, würde sie zusammenbrechen. Bis jetzt sind die drakonischen Sparmaßnahmen in Süd- und Osteuropa, übrigens auch in Großbritannien, zum großen Teil erst proklamiert. Sollten sie in vollem Umfang verwirklicht werden, ist eine europäische Rezession mit globalen Auswirkungen zu erwarten. Und geht Griechenland pleite, gerade wenn es sich kaputt spart, wird man sich wundern, wo überall griechische Staatspapiere gebunkert sind. Das ist nicht viel anders als bei den Lehman-Zertifikaten, und es gilt für die faulen Staatsschulden überall. Das Kapital in allen seinen Formen ist international. Wenn die Proteste gegen die antisozialen Krisenprogramme nichts als die bornierte nationale Unabhängigkeit beschwören, können sie nur ins Leere gehen.

In der wöchentlichen ND-Wirtschaftskolumne erläutern der Philosoph Robert Kurz, der Ökonom Harry Nick, die Wirtschaftsexpertin Christa Luft und der Wirtschaftsprofessor Rudolf Hickel Hintergründe aktueller Vorgänge.

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