»Wir sind hier nicht in England«

IG Metall stellt Befragungsergebnisse zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie zur Zukunft der Jugend vor

  • Jörg Meyer
  • Lesedauer: 5 Min.
In den meisten Fällen gehen Initiativen für Familienfreundlichkeit von Betriebsräten aus und nicht von den Arbeitgebern. Und Jugendliche wünschen sich in erster Linie eine gute Ausbildung. Die IG Metall hatte nachgefragt und stellte gestern die Antworten vor.

Die Betriebsräte sind ernüchtert: In Fragen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie erfahren sie zu wenig Unterstützung von den Arbeitgebern. Mehr als die Hälfte der Betriebsräte würde in dieser Frage von den jeweiligen Unternehmen allein gelassen; nur in sieben Prozent der Fälle hätten Firmen- oder Unternehmensleitungen selbst den Anstoß zu Betriebsvereinbarungen oder anderen Lösungen gegeben. Das ist ein Ergebnis einer Befragung von rund Betriebsrätinnen und Betriebsräten in der Metall- und Elektrobranche. Der Zweite Vorsitzende der IG Metall, Detlef Wetzel, stellte am Dienstag in Berlin die Studie vor.

So habe ein Betriebsrat in seiner Antwort geschrieben: »Es wird immer schwieriger, mit dem Arbeitgeber Vereinbarungen zu treffen. Eine soziale Verantwortung des Arbeitgebers ist fast nicht mehr vorhanden.« Wetzel nannte die Vereinbarkeit von Beruf und Familie »ein große Herausforderung in den Betrieben«, die ungenügend von den Arbeitgebern gefördert werde. Die Ergebnisse stünden im »krassen Gegensatz« zu einer Aussage des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall vom Februar, in der es hieß »99 von 100 Unternehmen bieten familienfreundliche Maßnahmen«. Es gehe nicht um flexible Arbeitszeitregelungen »zugunsten der Maschinenlaufzeiten, sondern um Zeitsouveränität für die Beschäftigten«.

Die Kritisierten sehen das ganz anders: »Gerade die Metall- und Elektroindustrie ist vorbildlich was die Vereinbarkeit von Familie und Beruf angeht. Flexible Arbeitszeitmodelle sind in unserer Branche flächendeckend eingeführt und eine wesentliche Grundlage«, hieß es auf Anfrage am Dienstag aus dem Arbeitgeberverband. Bei der Kinderbetreuung gebe es jedoch Handlungsbedarf. Da sei aber die Politik gefordert – etwa bei bedarfsgerechten Kitaöffnungszeiten. An dem Punkt sind die Arbeitgeber und Gewerkschaft dichter beieinander. Die Fragen der Kinderbetreuung und auch zunehmend die Pflege von Angehörigen würden in den Betrieben thematisiert. Für die IG Metall »Ergebnis einer Politik, die die sozialpolitischen Aufgaben des Staates ungenügend wahrnimmt«.

Und am Ende der Schlange? Dort stehen wie fast immer die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter. Die mit dem Arbeitgeber ausgehandelten Regelungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelten für sie nur in Ausnahmefällen.

Die Jungen haben's schwer

Rund zwei Drittel der Bundesbürger glauben, dass für die junge Generation nicht genug getan wird. Bei den unter 35-Jährigen sind es sogar noch mehr. Das ist ein Ergebnis der repräsentativen Umfrage »Zukunft und Perspektiven der jungen Generation«, die die Gewerkschaft ebenfalls am Dienstag vorstellte. Anlass, nach der Situation hierzulande zu fragen, gibt es genug. Die jüngsten Ausschreitungen in England, anhaltende Proteste in Spanien und Griechenland: Überall sind es besonders Jugendliche, die gegen die Zumutungen der Perspektivlosigkeit und der immer neuen Spardiktate auf die Barrikaden gehen. »Deutschland ist nicht England«, sagte Wetzel. Die jeweilige soziale Situation sei eine ganz andere, die Jugendarbeitslosigkeit sei in Spanien mit 45 Prozent viel höher, die Unterschiede zwischen Arm und Reich seien in Großbritannien deutlich größer – noch.

Über 80 Prozent aller Befragten sind der Ansicht, dass unsichere Beschäftigungsverhältnisse auf den sozialen Frieden einen »äußerst hohen«, »sehr hohen« oder »hohen« Einfluss haben. Teile der Jugend hätten eine unsichere Arbeits- und Lebensperspektive, so Wetzel. »Und die Jungen wollen gar nicht viel«. Die Favoriten der Erwerbstätigen unter 35 Jahre für die Zukunft der jungen Generation: eine gute Ausbildung (98 Prozent), Soziale Absicherung (96 Prozent und stabile Beschäftigungsverhältnisse (95) Prozent.

Das dürften auch die Punkte sein, bei denen es am meisten hapert. In Deutschland ist wie in kaum einem anderen Land die soziale Herkunft dafür entscheidend, ob der Weg nach der Schule in die Uni oder in den Betrieb führt, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei zehn Prozent, mehr als die Hälfte der jungen Menschen steckt in prekären Arbeitsverhältnissen fest – Junge mit Migrationshintergrund haben es oft noch schwerer.

Die IG Metall erlebe eine Renaissance und stehe besonders bei den Jugendlichen hoch im Kurs, sagte Wetzel. Die Mitgliederzahlen insgesamt stiegen, und jedes zweite Neumitglied sei unter 27 Jahre alt. Bis zum Jahresende rechnet die Gewerkschaft insgesamt mit einem nennenswerten Mitgliedsplus. In der nächsten Tarifrunde in den Metall- und Elektrobetrieben will die IG Metall auf die unbefristete Übernahme nach Ausbildungsende setzen und weiter für die Gleichbehandlung von Leiharbeiterinnen und -arbeitern streiten.

Wetzel forderte einen »Masterplan« für die junge Generation. Mit über 400 000 Mitgliedern unter 35 Jahre sei die IG Metall der größte politische Jugendverband Deutschlands und müsse mit am Tisch sitzen. »Wir hoffen, dass es uns auch ohne brennende Autos gelingen wird, öffentliche Aufmerksamkeit für die Probleme der jungen Generation zu schaffen«, sagte Wetzel. Es bereite ihm »persönliches Unbehagen«, dass einige Themen in dieser Gesellschaft erst angepackt werden, wenn sie sich besonders spektakulär skandalisieren lassen«.


Familie und Beruf

Gefragt wurden zwischen Juli und August 8449 Betriebsrätinnen und Betriebsräte, beteiligt an der Umfrage haben sich davon 4127.

Nur zehn Prozent der Betriebe in der Metall- und Elektrobranche – vom Kleinbetrieb bis zum Großkonzern – haben Vereinbarungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf geschlossen. Bei weiteren vier Prozent laufen die Verhandlungen. In 65 Prozent der Fälle ging die Initiative zu einer Regelung von den Betriebsräten aus.

In den getroffenen Regelungen geht es in 87 Prozent um die Arbeitszeit, bei 62 Prozent um die Rückkehr nach der Elternzeit, in 38 Prozent um Kinderbetreuung und in 37 Prozent um betriebliche Sozialleistungen wie Sonderurlaube oder finanzielle Zuschüsse.

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