Die Taliban wollen nicht bis zum Machtwechsel warten

Attacken der Aufständischen im afghanischen Machtzentrum Kabul – US-Botschaft unter Beschuss, keine Angaben über Tote und Verletzte

  • René Heilig
  • Lesedauer: 3 Min.
Aufständische haben am Dienstag gegen 13 Uhr Ortszeit (9.30 Uhr MESZ) das schwer gesicherte politische Zentrum Kabuls angegriffen. Unter Beschuss lagen auch die US-Botschaft sowie das Hauptquartier der ISAF-Truppe. Präsident Hamid Karzai berief den Sicherheitsrat ein.

»Unsere Kämpfer sind gut ausgerüstet – mit Panzerfäusten, Sprengsätzen und Gewehren – und sie werden bis zum Ende kämpfen«, tönte Sabiullah Mudschahid, der wohl wichtigste Sprecher der Taliban. Kaum dass die Angriffe begonnen hatten, meldete sich seine clevere »Medien-Brigade« bei ausländischen Agenturen, um den Erfolg der kämpfenden Truppe auszubauen. Die Attacken, so gab er kund, richteten sich gegen verschiedene Ministerien, Gebäude des Geheimdienstes sowie gegen westliche Botschaften. Der Taliban-Sprecher erklärte in einer SMS weiter, dass man ein kampfstarkes Team in die Hauptstadt geschmuggelt habe, vorbei an allen Sicherheitsschleusen, die es gerade im Botschaftsviertel zahlreich gibt. Zudem schienen die Kämpfer bestens mit Munition versorgt zu sein.

Die Taliban hatten nicht geblufft, die afghanischen Sicherheitsbehörden daher Mühe, die Angreifer in Schach zu halten. Über Stunden waren Maschinenpistolensalven und Explosionen zu hören. Einige Aufständische verschanzten sich offenbar in einem Hochhausrohbau am Abdul Haq Platz. Von dort konnten sie ganze Straßenzüge beherrschen und hatten freies Schussfeld auf die nur rund 300 Meter entfernte US-Botschaft, berichtete die britische BBC. Der US-Nachrichtensender CNN zeigte Bilder des Hochhauses, in dem pausenlos Kugeln einschlugen.

Auf dem Dach der Botschaft hatten derweil US-Marineinfanteristen Stellung bezogen. Doch gegen aus Panzerbüchsen abgefeuerte Geschosse waren sie machtlos. Westliche Korrespondenten berichteten, vier Selbstmordattentäter hätten zuvor versucht, den Botschaftskomplex anzugreifen. Zwei seien erschossen worden. Das bestätigte auch Kabuls Polizeichef. Vor dem schwer gesicherten Gebäude lägen überall Glassplitter und Metallteile, erzählten Augenzeugen und sprachen von vier oder fünf Explosionen. Per Lautsprecher wurden alle Mitarbeiter der US-Botschaft aufgefordert, sich in Deckung zu begeben.

Bis zum Abend waren noch keine gesicherten Informationen darüber verfügbar, wie viele Menschen bei den Bombenanschlägen und durch die Schießereien getötet oder verwundet worden sind.

Afghanische Sicherheitskräfte riegelten den Stadtbezirk ab, die Armee beorderte Panzerfahrzeuge in das Kampfgebiet. Fernsehbilder zeigten Blackhawk-Hubschrauber der US-Armee über dem Diplomatenviertel.

Die afghanische Regierung wies die Mitarbeiter mehrerer Ministerien an, sich in ihren Büros zu verschanzen. Per Fernsehdurchsage forderte man Anwohner auf, ihre Häuser nicht zu verlassen und sich von Fenstern fern zu halten. Auf dem Gelände der ISAF-Sicherheitstruppe wurden Soldaten in gesicherte Räume geschickt.

Stunden nach dem Beginn der Attacke gab es weitere Explosionen in anderen Stadtteilen der afghanischen Hauptstadt. Eine heftige Detonation habe es im Westen gegeben, dort, wo die Polizeiakademie ist. Ein weiterer Selbstmordbomber sei vor einem Gymnasium gestoppt worden.

NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen verurteilte die Gewalt. Er wertete die Angriffe als Versuch, die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Behörden zu behindern. Doch das werde nicht gelingen, sagte der NATO-Chef. »Wir haben Vertrauen in die afghanischen Behörden.«

Doch Vertrauen reicht offenbar nicht. Die Angreifer haben abermals einen psychologischen Sieg errungen. Die Attacke zeigt, dass die Taliban zu jeder Zeit und überall in der Festung Kabul Angst und Schrecken verbreiten können.


Ursprünglich galt Afghanistans Hauptstadt Kabul als »befriedet«. Ein Irrtum.

Januar 2010: Zwölf Tote bei einem Angriff auf Regierungseinrichtungen und Einkaufszentren.

Februar 2010: Mindestens 17 Menschen werden getötet bei einem Bombenanschlag auf ausländische Vertretungen.

Januar 2011: Acht Tote nach Selbstmordanschlag auf einen Supermarkt.

April 2011: Zwei Soldaten werden bei einem Angriff auf das Verteidigungsministerium getötet.

Juni 2011: Sieben Menschen sterben bei einer Attacke auf das Hotel Intercontinental, wo eine internationale Konferenz zur Zukunft Afghanistans stattfand.

August 2011: Bewaffnete stürmen das Hauptquartier des British Council, zwölf Menschen sterben.

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