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Syrischer Herbst

Nach Gaddafis Tod zielt der Westen auf Assad

  • Karin Leukefeld, Damaskus
  • Lesedauer: 6 Min.

Kaum ist die Sonne untergegangen, verlassen die weißen Minibusse im Minutentakt Baramke, den Busbahnhof an der Universität von Damaskus. In rasender Geschwindigkeit und meist rücksichtslos gegen andere Verkehrsteilnehmer bringen sie die Menschen in ihre Wohnorte am Rande der syrischen Hauptstadt, nach Damaskus-Rif. Offiziell leben 1,7 Millionen Einwohner in Damaskus-Stadt, im Umland noch einmal doppelt so viele. Jenseits der Statistik aber wird die Einwohnerzahl von Damaskus und Umgebung auf bis zu sieben Millionen geschätzt, die vorhandene Infrastruktur ist völlig überfordert. Mehr als 50 Prozent der Syrer leben heute in hastig errichteten Neubaugebieten und Armengürteln der großen Städte. Auch Aleppo, Idlib, Homs, Hama und Deir El-Zor haben heute die Millionengrenze überstiegen. Zehntausende Landflüchtlinge fanden in ihrer ursprünglichen Heimat im Osten und Nordosten des Landes kein Auskommen mehr, nun versuchen sie ihr Glück als Tagelöhner.

Das hohe Bevölkerungswachstum und jahrelange Dürre gelten schon lange als die größten Probleme Syriens, ursprünglich ein Agrarland. Innerhalb von nur 15 Jahren ist die Bevölkerung von etwa 16 auf 23 Millionen geradezu explodiert.

Das Gefühl der Geborgenheit ist vorbei

Am Baramke strömen die Menschenmassen über die Fußwege, eilen bei den kurzen Grünphasen der Ampeln über die verblichenen Zebrastreifen, kurz darauf donnern wieder Tausende Fahrzeuge vorbei, hupen und geben mit quietschenden Reifen Gas. Jeder hat es eilig, nach Hause zu kommen. Früher habe sie sich oft am Abend mit Freunden im Café oder Restaurant getroffen, erzählt eine junge Frau, die in einem Reisebüro in Damaskus arbeitet. Doch seit die Unruhen auch ihren Vorort erreicht haben, versucht sie, vor der Dunkelheit zu Hause zu sein, sie erkenne ihr ruhiges Dorf nicht wieder. »Mein Mann holt mich an der Haltestelle ab, damit ich nicht allein durch die Straßen zu unserem Haus laufen muss.« Inzwischen seien es nur noch ein paar Dutzend junge Männer, die nach dem Abendgebet aus einer Moschee kämen und Parolen gegen den Präsidenten riefen. Nach wenigen Minuten sei der Spuk meist vorbei, dennoch habe sich in den letzten Tagen die Präsenz von Militär und Geheimdienst deutlich erhöht.

In einem kleinen Caféhaus hat sich Marwan (Name geändert) innerhalb kurzer Zeit schon die zweite Zigarette angezündet und nippt langsam an seinem Tee. »Früher reichte eine Schachtel Zigaretten bei mir zwei, drei Tage«, sagt er entschuldigend. »Heute rauche ich zwei Schachteln am Tag.« Überall gebe es hitzige Debatten darüber, was derzeit in Syrien geschieht, erzählt er weiter. Der Riss gehe sogar quer durch Familien.

Anfang des Jahres hatte der junge Mann noch Träume. Ein guter Fotograf und Maler wollte er werden. Er hatte sich eine Wohnung in einem ruhigen Vorort von Damaskus gekauft, träumte von einem eigenen Studio und einer künstlerischen Ausbildung. Doch seit März hat sich sein Leben auf den Kopf gestellt. Durch den ruhigen Vorort zogen skandierende Moscheebesucher. Jugendliche warfen Steine und bauten Barrikaden, Sicherheitskräfte des Geheimdienstes griffen unbarmherzig zu, Hunderte wurden verhaftet, dann gab es Tote. »Ich rede mit niemandem mehr. Wenn ich zu Hause bin, mache ich die Gardinen zu«, sagt Marwan. Nun versucht er, seine Wohnung wieder zu verkaufen, doch alle Kaufangebote blieben weit unter dem Preis, den er bezahlt hat. Das kann er sich nicht leisten. »Ja, wir wollen und brauchen Veränderung«, sagt er. Doch Veränderung brauche Zeit und könne nur friedlich und gemeinsam erreicht werden, nicht durch Gewalt, egal von wem.

Zeit für Reformen geben sie Assad nicht

Nichts davon scheint derzeit noch möglich in Syrien. Der Staat habe einen großen Fehler gemacht, als er auf die ersten Proteste in Deraa zu spät und mit Gewalt reagiert habe, sagt ein Familienvater, der zur schweigenden Mehrheit gezählt werden könnte und namentlich nicht genannt werden möchte. Den nächsten Fehler habe die Opposition gemacht, die das Angebot zum Dialog nicht angenommen habe. Diejenigen, die immer weiter protestierten, hätten dem Präsidenten keine Zeit gegeben, angekündigte Reformen in die Tat umzusetzen, das sei ein weiterer Fehler gewesen, meint der Mann.

Ausländische Medien trommelten gegen Syrien, die USA und Europa bliesen zum Angriff, die Sanktionen hätten die Menschen wirtschaftlich in den Abgrund gestoßen. »Eines ist uns klar: Weder den USA noch Europa geht es um die Menschen hier in Syrien«, beschließt er sein bitteres Fazit. »Afghanistan, Irak, Libyen - alles zerstört, Millionen Tote. Mit Menschenrechten hat das nichts zu tun.«

»Nach dem Tod Gaddafis zielt der Westen jetzt auf Syrien«, titelte das Monatsmagazin »Syria Today« dieser Tage. Die Webseite der Muslim-Bruderschaft in Schweden, »Syrische Revolution 2011«, warnte: »Gaddafi ist gegangen, als nächster bist du dran, Baschar.« Tatsächlich erhöhten sowohl die USA als auch Europa unmittelbar nach Bekanntwerden des Todes von Muammar al-Gaddafi erneut den Druck auf das Land. Die EU verhängt immer weitere Sanktionen, deren Folgen der syrische Geschäftsmann Baschir Challah so kommentiert: »Es wird ein langsamer Tod sein, doch die Sanktionen töten dieses Land.«

Die USA riefen ihren Botschafter in einen »unbefristeten Urlaub« aus Damaskus zurück. Seit sie Assad als Partner für den Frieden im Mittleren Osten fallen ließen, haben Westeuropa und die USA sich als neuen Partner die Opposition, den Syrischen Nationalrat, auserkoren. Mit Hilfe einer Kommission der Arabischen Liga soll das Regime Assad in Gespräche mit diesem Gremium gezwungen werden. Exilgruppen aus den USA und Europa haben diesen Rat ins Leben gerufen, die Mehrheit von ihnen fordert eine »humanitäre Intervention« in Syrien und den Sturz des Regimes.

»Das Regime hat die Botschaft verstanden«

Die Landbevölkerung habe sich gegen das »System Assad« erhoben, analysiert der frühere Präsidentenberater und Geschichtsprofessor George Jabbour im Gespräch mit der Autorin in Damaskus. Getragen seien die Proteste vom gleichen Geist wie die Bewegung »Occupy Wallstreet«. »Es ist ein Kampf der Armen gegen die Reichen.« Dennoch seien die Demonstrationen gegen das Regime deutlich zurückgegangen, so Jabbour. Die Niederschlagung durch den Geheimdienst, Verzweiflung und Müdigkeit hätten dazu beigetragen. Millionen seien vielleicht nicht für Assad, aber doch für sein Reformprogramm auf die Straße gegangen.

»Das Regime hat die Botschaft verstanden«, sagt Jabbour. »Wir können freier reden. Wenn Leute sogar öffentlich fordern, dass der Präsident aufgehängt werden soll,, kann man wohl von Meinungsfreiheit reden.« Mit dem »Block für Wandel und Befreiung«, der »Partei für den Aufbau des syrischen Staates«, den »Koordinationsausschüssen« und einer Bewegung »Dritter Weg« hätten sich neue Parteien gegründet. Doch jenseits der politischen Entwicklung bleibe die Frage: »Wie schützen wir die Zivilbevölkerung?« Eine Intervention von außen komme nicht in Frage. Was das bedeute, habe man in Afghanistan, Irak und Libyen gesehen. Jetzt sei die Stunde der syrischen Zivilgesellschaft, arabischer Intellektueller, hofft er, die den Syrern zur Seite stehen müssten. Menschenketten zwischen Demonstranten und Geheimdienst? »Vielleicht«, sagt Jabbour.


Keine Lösung in Sicht

Nach sieben Monaten Protestbewegung in Syrien eskalieren die Auseinandersetzungen. Was als Bewegung aufgebrachter Bürger in der syrischen Stadt Deraa begann, ist inzwischen zu einer Art Bürgerkrieg geworden. Ein Treffen zwischen Syriens Außenminister Walid al-Muallim und einer Gruppe arabischer Außenminister endete am Montagabend ohne Ergebnis. Die Minister hatten von Syrien gefordert, die Armee aus den Protesthochburgen abzuziehen, alle mutmaßlichen Regimegegner freizulassen und in Kairo einen Dialog mit der Opposition zu beginnen. Die syrische Seite stimmte diesen Forderungen nicht zu. nd/dpa

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