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Nostratisch

Die Welt der Sprachen – ein Faszinosum

  • Antje Stiebitz
  • Lesedauer: 3 Min.

Wussten Sie, dass es Pfeifsprachen gibt? Dass das sibirische Evenki 50 Dialekte, aber nur 5000 Sprecher hat? Oder dass wir 70 Muskeln an zehn verschiedenen Köperstellen koordinieren müssen, um eine einzige Silbe zu bilden? Der Sachbuch- und Romanautor Frank Schweizer entführt in die komplexe Welt der Sprachen. Er gräbt bis an die Wurzel der menschlichen Artikulationsfähigkeit, wandelt auf den Spuren einer Ursprache, beschäftigt sich mit dem Prozess des Spracherwerbs und überrascht durch verblüffende Details rund um die Erde.

Grundsätzlich unterscheidet er zwischen »Gehirnsprengern« und leichten Sprachen. Gleich zu Beginn räumt er mit einem europäischen Irrglauben auf: dass Sprachen weitentlegener Orte besonders simpel seien. Eine linguistische Faustregel besage, dass gerade isolierte Sprachen besonders kompliziert seien. Denn Sprachen, die auf andere stoßen, schleifen sich ab. So wurde Englisch, die Sprache des Empire, immer einfacher, die isländische Sprache hingegen bewahrte ihre komplexe Struktur.

Wie anspruchsvoll eine Sprache ist, wird an ihrer Grammatik, an ihrer Aussprache und ihrer sozialen Gebundenheit bemessen: Russisch gilt grammatikalisch als schwer. Doch was die Aussprache betrifft, sind afrikanische Schnalzlaut-Sprachen für jedes untrainierte Ohr eine Herausforderung. Heikel sind die in Australien geltenden Tabus. Dort dürfen die Namen von Toten nicht ausgesprochen werden und sogar Worte, die ähnlich klingen, sind untersagt. Das erfordert vom Sprecher ein gerütteltes Maß an Sensibilität und vermindert den Wortschatz.

Dass Sprachwissenschaft keine verstaubte Angelegenheit ist, beweist dieses interessante und unterhaltsame Buch. Es verweist auch auf viele offene Fragen. So erfahren wir, dass der Sprachwissenschaftler Joseph Greenberg im letzten Jahrhundert behauptete, er könne alle 6000 Weltsprachen in 17 Sprachgruppen einteilen; die meisten seiner Kollegen gingen und gehen von rund 100 Sprachfamilien aus.

Als Ursprache machten einige Gelehrte das »Nostratisch« 12 000 v. Chr. aus, eine Sprache, aus der sich die indoeuropäischen und asiatischen Sprachen wie Uralisch, Altaisch und Eskimo-Aleutisch entwickelt haben sollen. Diese These ist höchst umstritten. Ebenso kontrovers wird die Identität der »Indoeuropäer« diskutiert. Der Leser erfährt viel über die Arbeit der Linguisten: Wie Archäologen aus spärlichen Knochenfunden Geschichte zu rekonstruieren versuchen, so bemühen sie sich, Sprachgeschichte aus Wörtern zusammenzupuzzeln.

Eines der amüsantesten Kapitel ist sicherlich jenes, das die Aussprache verschiedener Sprachen beleuchtet und den Leser anhand von Beispielen zum Selbstversuch anregt. Hier eine Kostprobe aus dem Sindhi, einer Sprache, die in Nordindien und Pakistan gesprochen wird: Bei »b«, »d«, »g« einatmen, beim Rest des Wortes ausatmen: also »b'aru« (Kind), »d'aru« (Spalt), »g'ero« (schwer). Wenn Sie diese Komposition nicht meistern konnten – geben Sie nicht auf. Denn nach Frank Schweizer können auch Erwachsene eine Sprache noch vollständig erlernen. Die meisten brechen den Unterricht nur einfach zu früh ab. Der Philosoph räumt aber auch ein, dass wir uns mit anderen Sprachen womöglich deswegen so schwer tun, weil wir uns weigerten, in andere Bewusstseinswelten einzutauchen.

Frank Schweizer: Seltsame Sprache(n). Oder wie man am Amazonas bis drei zählt. Militzke, Leipzig. 294 S., geb., 17,90 €

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