Die Schatten werden länger

»Vergesst Auschwitz!« - Henryk M. Broder erkennt im Holocaust-Gedenken eine Deckideologie

  • Micha Brumlik
  • Lesedauer: 7 Min.
Henryk M. Broder: Vergesst Auschwitz! Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israelfrage. Knaus Verlag, 176 S., geb., 16,99 €.
Henryk M. Broder: Vergesst Auschwitz! Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israelfrage. Knaus Verlag, 176 S., geb., 16,99 €.

Ein Buch, geschrieben offenbar in Wut, Angst und Verzweiflung. Henryk M. Broder will die deutsche Öffentlichkeit vor dem warnen, was sie für ihr Bestes hält. Er behauptet nicht weniger, als dass das kulturell fest verankerte Gedenken an die im Holocaust ermordeten Juden eine Deckideologie ist: dafür, die vom Iran geplante atomare Vernichtung des jüdischen Staates guten Gewissens geschehen zu lassen.

»So wie die Erinnerung heute praktiziert wird« - das ist Generalthese des Traktats -, »ist sie eine Übung in Heuchelei, Verlogenheit, Scheinheiligkeit und Opportunismus. Und sie bereitet den Weg für kommende Katastrophen vor.« Als Beleg dient die Annahme, alle Formen einer vor mehr als zwanzig Jahren noch marginalen, antisemitischen Kritik am jüdischen Staat sei heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Broder ist bewusst, mit dieser Hypothese erhebliche Beweislasten übernommen zu haben: »Mir ist klar, daß ich […] gewagte Behauptungen aufstelle. Die meisten sind belegbar, einige beruhen auf schlichter Logik.«

Belegen kann er den bizarren Fall der »Klagemauer von Köln«, also den Fall des Walter Herrmann, eines friedensbewegten antisemitischen Aktivisten, der über Wochen vor dem Kölner Dom auf Stelltafeln die Lüge verbreitete, die Palästinenser hätten unter israelischer Besatzung ebenso zu leiden wie die Juden unter dem Nationalsozialismus. Herrmann garnierte all das mit einem Bild, auf dem eine korpulente Gestalt ein vor ihr liegendes Kind mit Messer und Gabel zerstückelt. Während auf dem Messer »Gaza« steht, trägt der Menschenfresser einen Latz, auf dem ein Davidstern zu sehen ist. Völlig zu Recht erstatteten einige Passanten ob dieses Ensembles Anzeige wegen Volksverhetzung. Indes: Die Ermittlungen wurden eingestellt. Eine Beschwerde gegen die Einstellung beantwortete der Kölner Generalstaatsanwalt: Obwohl bei Herrmann eine bewusst gewählte antisemitische Bildsprache vorliege, sei eine Strafbarkeit nicht zu begründen, da - so der Generalstaatsanwalt - »das Bild […] verfremdet worden ist und im Kontext […] für den objektiven Beobachter einen anderen möglichen Bedeutungsgehalt erhält«. Herrmann ist Träger des »Aachener Friedenspreises«, der Auszeichnung eines Vereins, der von fünfzig namhaften Organisationen des linksliberalen Spektrums getragen wird. Nachdem der Kölner Oberbürgermeister dem Spuk mit ordnungspolizeilichen Mitteln schließlich ein Ende machte, schrieb der Verein: »Die Klagemauer ist ein Angebot zur politischen Bewusstseinsbildung für Kölner Bürger und Reisende aus aller Welt.«

Als nächstes präsentiert Broder die Debatte um eine Äußerung des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad aus dem Jahr 2005, die der arabische Sender Al Dschasira so wiedergab: »Iranian President Mahmoud Ahmadinedjad has openly called for Israel to be wiped off the map« (Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad hat offen dazu aufgerufen, Israel von der Landkarte zu fegen). Anders als Al Dschasira taten sich etwa die Chefs von ZDF und dpa, AFP und Spiegel online und nicht zuletzt die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur in der »Süddeutschen Zeitung« schwerer mit der Übersetzung von Ahmadinedschads Aussage aus dem Persischen: Sie hielten eine Lesart für plausibler, wonach der iranische Präsident gesagt habe, dass das zionistische Regime aus den Annalen der Geschichte getilgt werde. Nimmt man freilich zur Kenntnis, dass alle Sätze in einem Kontext stehen und mindestens der iranische Revolutionsführer Khamenei den Staat Israel mit einem Krebsgeschwür gleichgesetzt hat, wird klar, dass Al Dschasira in der Sache recht hatte und alle anderen Übersetzungsvorschläge schiere Apologetik für die Hetze eines den Holocaust leugnenden eliminatorischen Antisemiten waren.

Der Fall des Radiomoderators Ken Jebsen, er moderierte über Jahre beim RBB-Radiosender »Fritz«, komplettiert die Serie offensichtlicher Skandale. Jebsen hatte schon seit Längerem paranoide Verschwörungstheorien zum 11. September 2001 propagiert und auf die Beschwerde-Mail eines Hörers im Spätherbst 2011 mit einer wirren Mail geantwortet, die eindeutig antisemitische Äußerungen enthält. Auch hier reagierten die Verantwortlichen apologetisch: Zwar gab Claudia Noethelle, die Programmdirektorin des RBB, zu Protokoll, Jebsens Meinungen hätten in der Sendeanstalt keinen Platz, indes: »Das heißt natürlich nicht, dass bei uns keine ungewöhnlichen Meinungen vorgetragen werden dürfen.« Am Ende der Affäre wurde der Moderator seiner Aufgabe entbunden. Zu fragen bleibt allenfalls, welcher Teufel die Redaktion dieser Zeitung, des »neuen deutschland«, geritten hat, als sie einen Bericht über die Affäre mit der verharmlosenden Überschrift »Rausschmiss eines Unbequemen« versah.

Natürlich spießt Broder seine Lieblingsfeinde Norman Paech und die Aktivisten der »Gaza-Hilfsflotte« auf, die er umstandslos zu Antisemiten erklärt, um sich schließlich mit Ingrimm dem ehemaligen Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, zuzuwenden, dem er die Gleichsetzung von Antisemitismus und Islamophobie vorhält. Dabei kritisiert Broder nicht Benz' in der Tat ungenügende vorurteilstheoretische Fassung von »Antisemitismus« und antiislamischen Einstellungen, sondern dass Benz beides überhaupt in einem Atemzug erwähnt. Broder scheint zu meinen, dass es kollektive, ablehnende und diskriminierende Haltungen gegen Islam und Muslime gar nicht gibt. Seine weitergehende Behauptung, »Islamophobie« sei schon deshalb ein unpassendes Konstrukt, weil von Ajatollah Khomeini geprägt, überzeugt überhaupt nicht. Soll man den Begriff »Antisemitismus« nicht mehr benutzen, weil er von Judenfeinden erfunden wurde? Verharmlost den gegenwärtigen Antisemitismus, wer ihn mit negativen Einstellungen und Handlungen gegen Islam und Muslime gleichsetzt - etwa mit dem ausdrücklich antiislamisch begründeten Mord an der Krankenschwester al Sherbini oder dem ebenfalls antiislamisch begründeten Massenmord Anders Breiviks?

Höhnisch bewertet Broder die am 1. Juli 2010 im Deutschen Bundestag einstimmig von allen Fraktionen verabschiedete Erklärung zum Thema »Ereignisse um die Gaza-Flotille aufklären« als Ausdruck nationaler Selbstfindung: »War früher die sogenannte Judenfrage das überparteiliche Band, das die Deutschen zusammenhielt, so ist es heute die Palästinafrage, die ein Gefühl der nationalen Einheit erzeugt.« Erheblichen Raum widmet er den Nahostdebatten in der Partei DIE LINKE. Genüsslich seziert er das irrationale Hin und Her der Debatte bis hin zur Verankerung des unter allen Parteien singulären Bekenntnisses zum Existenzrecht Israels im Parteiprogramm. Inakzeptabel, keinesfalls belegt und allenfalls aus eigenem Vorurteil logisch erschlossen, ist schließlich folgende Behauptung: »Jeder pensionierte 68er kennt die ›Todesfuge‹ von Paul Celan und weiß, daß der Tod ein ›Meister aus Deutschland‹ ist. Was ihn nicht daran hindert, mit einem Palästinensertuch um den Hals zu laufen und Israel einen ›Brückenkopf‹ des US Imperialismus« zu nennen.

Am Ende bleibt das Bekenntnis des Autors, dass ihn tote Juden nicht interessieren und er es deshalb begrüßt, dass sich israelische Jugendliche bei einem Besuch in Auschwitz eine Stripperin ins Hotel holten: hätten sie sich doch für das Leben und gegen den Tod entschieden! Den Lebenden - so das abschließende Credo - in Libyen, Syrien und Afghanistan zu helfen, sei wichtiger, als die Toten zu ehren. Konsequent endet das Buch mit der aus der Geschichte begründeten Forderung, Iran anzugreifen: »Aus Angst vor unabsehbaren Folgen blieben auch die Westmächte passiv, als Polen von den Nazis überfallen wurde. Die nötigen Grausamkeiten müssen am Anfang begangen werden. Vergesst Auschwitz! Denkt an Israel - bevor es zu spät ist.«

Dieser Schlusssatz zeigt jedoch, wie stark der 1946 als Kind von Holocaust-Überlebenden geborene Henryk M. Broder vom Leiden an diese Verbrechen gezeichnet ist. Genau genommen überfiel Hitlers Wehrmacht Polen am 1. September 1939, kurz darauf erklärten die Westmächte Großbritannien und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg. Blieben sie passiv? Frankreich verbunkerte sich an der Maginotlinie, »drôle de guerre«, und das Vereinigte Königreich fand noch keinen militärischen Ansatzpunkt, Deutschland anzugreifen. Wenn überhaupt, so hätte es nur darum gehen können, schon Hitlers Besetzung des Rheinlands 1936 nicht hinzunehmen.

Aber wie dem auch sei: »Vergesst Auschwitz« ist ein Buch über das, was Broder den Deutschen vorwirft: über eine Obsession, von der er als paradoxer Akteur dieser Gedenkkultur selbst zehrt. Das stimmt traurig, sollte jedoch respektiert und in der Sache ernst genommen werden. Jüdisches Leben nach der Shoah ist immer auch jüdisches Leben im Schatten der Shoah. Diese Schatten werden im fahlen Licht der iranischen Bedrohung länger.

Holocaust-Mahnmal in Berlin
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