Auch Brecht schrieb - Slapstücke

Vor dem Theatertreffen Berlin: Herbert Fritsch, ein Tollhaus

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Jede Zeit, auch wenn sie sich Friedenszeit nennt, ist eine schwere Zeit. Merkwürdigerweise hat aber jede Zeit den Drang, einzig sich selber den Spitzenplatz der drückendsten Lasten, der totalen geistigen Leere, des überbordenden seelischen Leids herbeizuraunen. Nie war es so ernst wie - jeweils heutzutage. Und nie war alles so blöd - wie jeweils heutzutage. Mit Energie wird die schlichte Tatsache, dass man mit Vielem nicht mehr so ganz klar kommt (Preis des Älterwerdens), auf die Welt hochgerechnet. Vielleicht, weil es durchaus etwas Wohliges hat, an Klippen des Niedergangs zu siedeln: Denn intellektuelle Melancholie zählt poetisch mehr als der Witz. Und jeder Schmerz erhöht, wo dagegen der Spaß nur in den Talsohlen des Niveaus herumtanzt.

Auch gegenwärtig ist überall nase- oder eher hirnrümpfend von den Unbotmäßigkeiten der Ironie die Rede, vom energisch durchzusetzenden »Schluss mit lustig!«, von der unpassenden Banalisierung des Tiefernsten - und wo in den Künsten versehentlich gelacht wird, da lauert sicherheitshalber die Bereitschaft, wegen solch taktloser Gemütsäußerung in wertzerrütteter Zeit unverzüglich, wenn gewünscht, um Verzeihung zu bitten.

Und da plötzlich, als gäbe es das Elend dieser Welt nicht, springen die Inszenierungen des ehemaligen Castorf-Grusel-und-Groteskbarden Herbert Fritsch über die Bühnenbretter von Oberhausen, Wiesbaden, Schwerin, Hamburg, Köln und Berlin; so, dass die Jamben-und-Jammerbude Theater nur so kracht - und lacht. Im vergangenen Jahr schafften zwei Arbeiten von ihm den Einzug ins Theatertreffen Berlin, auch für das diesjährige Festival, das in vierzehn Tagen beginnt,wurde er nominiert, mit dem Volksbühnenhit »Die (s)panische Fliege«.

Fritsch zerjuxt Bildungsgut. Er zergrinst Innerlichkeitsgreinen. Er zerhüpft Dramen. Er kalauert hinter allen Klugsätzen eines Dichters und springt ihnen dann urkomisch in den Rhythmus. Er macht jeden Text fertig, zungenfertig. Er spielt, auf Biegen und Brechen - die Darsteller biegen sich, die gängigen Maßstäbe brechen. Die Bodenhaltung macht den Menschen: Er stürzt, fällt, rutscht. Und wenn er hoch hinaus will, klatscht er kopfüber in den Orchestergraben. Erst die Übertreibung schafft die Autonomie der Spieler. Sie kehren bei diesem Spaßhorror-Regisseur zurück in die ursprünglichste Gemeinschaft, nämlich in die Gri-Masse. Die für sich selber demonstriert, nicht im Auftrag eines Autors. Der liefert ein Stück, und ein Stück ist nicht das Ganze. Ist im Kern ein Slapstück. Ob von Lessing oder Brecht, Ibsen oder Hauptmann. Fritsch ist das alte Kind, das daran glaubt, man könne Menschen auf der Bühne so herumtoben lassen, dass sie sich vor den Augen der Zuschauer in Comicfiguren eines rasant an den Augen vorbeischießenden Zeichentrickfilms verwandeln.

Spaß gegen die Krise? Blödeln gegen den Bierernst? Es gab nach den Verheerungen der mittelalterlichen Pest einen »boccaccionischen« Aufschwung des Frivolen, des provokativ Heiteren; mitten im Nachgestank der Epidemie ein luftiger, Lust atmender Geist. So, als wollten damals die Kunst und das aufreizend freie Leben auf kulturorgiastisch bebenden Landgütern nachdrücklich proklamieren: Die Vertreibung des puren Spaßes ist noch lange keine Ankunft in der rettenden Moral.

Ein akuter Gedanke ist das in derzeitiger Ära, da die fleißige Arbeit an herabgezogenen Mundwinkeln hierzulande sogar hierarchische Früchte trug: Diese Mundwinkel schafften es bis an die Regierungsspitze. Sie wirken aber nur wie der überspannte Bogen einer Ernsthaftigkeit, wie sie bevorzugt in Deutschland herrscht (ja, herrscht): als verkniffener Wachposten vor den Gefängniszellen von Harlekin, Truffaldino und anderen Spaßvögel-Geburten. Die Theaterfreigang erst dann bekommen, nachdem sie tief in Sinn getaucht und fest an eine Bedeutung gekettet wurden - so, dass jeder, der sich fröhlich auf die Schenkel schlägt, keine Strafhiebe vom Gewissen bekommt.

Dies wird durchkreuzt vom herrlich unkontrollierten Sternschnuppentheater des Augsburgers Herbert Fritsch. Der die Droge kennt und den Rausch, den Exzess und die Hybris eines Körperwitzemachers, der sich auf seine eigene Weise den Verhältnissen der Welt widersetzt. In einem Prosastück von Johann Peter Hebel heißt es: »... es gibt eine unübersehbare Menge möglicher Formen und Bedingungen des Körpers und Geistes, unter denen der Mensch erscheinen kann; aber jede muss irgendeinmal oder irgendwo zum Vorschein kommen, wenn die Zeit für sie da ist, bis alle Möglichkeiten erschöpft sind.« Fritschs Theater: sich verausgaben bis zur Erschöpfung und dann sehen, was möglich ist.

Einer wie er hat Glück mit seinem Glück. Es kann nicht ewig währen, aber es überkam den knapp über Sechzigjährigen zu einem Zeitpunkt, da der Regisseur niemanden mehr etwas beweisen muss. In ahnbarer Nähe zur Schwelle, hinter der die Verlockungen und Verdammnissen des Loslassens zu bedenken sind, braucht der Erfolg kein Vorsorgekonto mehr anzulegen.

Herbert Fritsch reitet auf tolldreisten Sekundenwirkungen durch eine schöne Ewigkeit, die nichts von dem zu befürchten hat, was da Zeit heißt oder Maß oder Begrenztheit.

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