Der Zirkus ist da

Charivari heißt »buntes Durcheinander«. Doch auch ein Durcheinander braucht Ordnung

  • Holger Elias
  • Lesedauer: 8 Min.
Wer Klischees mag, der wird hier bedient. Der Zirkus ist da. Und die Leute gehen hin. Mehr oder weniger. Die ganz Jungen, weil sie neugierig in diese Welt hineinschnuppern möchten. Die Alten, weil sie sich an ihre eigene Kindheit erinnert fühlen, an eine Zeit, als der Zirkus noch ein Großereignis war. Als der gelernte Schauspieler und Regisseur Jochen Fleischmann sich seinen Traum vom eigenen Zirkus vor nunmehr genau zehn Jahren erfüllte, da wusste er durchaus schon, dass seine Wahl wohl eher zu einem Wagnis werden würde. Denn der heute 42-Jährige hatte zuvor die Luft des DDR-Renommierunternehmens Busch-Berolina eingeatmet und Appetit bekommen. Die Tatsache, dass er der letzte Direktor des von der Treuhand abgewickelten DDR-Staatszirkus gewesen war, nutzt ihm heute wohl als vorauseilende Werbebotschaft, mit der er im Osten festen Boden unter die Füße bekam. Das Motto zieht! Der Circus Charivari schwimmt erfolgreich gegen den Strom. Selbst die ganz Großen der Branche ächzen derzeit unter der Last der Euro-Einführung, beklagen die Zurückhaltung ihres Besucher-Klientel. Der Euro sitzt derzeit alles andere als locker. Die Leute wenden ihn mehrfach, um ihn dann lieber wieder in ihre Tasche zu stecken. Fleischmann hat in seinem »bunten Durcheinander« - so die Bedeutung des Begriffes Charivari - halbwegs Ordnung gebracht, denn auch ein Zirkus lebt und stirbt nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen. Kein Geld in der Kasse, dann schimmert die Zukunft düster. Rollt der Euro, dann kommen die Gehaltszahlungen pünktlich und es kann die eine oder andere Investition getätigt werden. Jochen Fleischmann hat investiert. Inzwischen gehören zur Charivari-Gemeinde mehr als 60 Fahrzeuge und Wagen, die ein oder zwei Mal die Woche umgesetzt werden müssen. Ebenso viele Mitarbeiter kümmern sich um Logistik, Auf- und Abbau, Wartung, die Tiere und um die Restauration... Ein paar Flops reichen aus, und die bunt schimmernde Welt unterm Zirkuszelt platzt wie Clown Timmis Luftballon beim großen Finale. Das einstige Zirkuskind Timm Schuster nennt sich heute Timmi und ist der Reprisenclown des Circus Charivari. Mit 22 soll er einer der jüngsten seines Fachs in Deutschland sein. Sein Markenzeichen ist ein amerikanischer Van, den er benötigt, um seinen riesigen Campingwagen selbst ziehen zu können. Den bewohnt er mit seiner Freundin und seinem kleinen Hund. Die Ausfalltage nutzen die Drei für sich, ansonsten bringt der junge Mann mit seinen Späßen die Besucher zum Lachen, und die hübsche Kasachin gibt Zirkus-Karten aus und nimmt Euro-Geld ein. Zwischen Manege und Kassenwagen bleibt nicht viel Zeit. Etwa 70 Tiere gehören dem Charivari-Direktorenpaar Jochen Fleischmann und Petra Griesing. Alles eigene Tiere, die nach und nach angeschafft wurden, eben so, wie es der Geldbeutel gestattete. Die besondere Aufmerksamkeit des Tierlehrers gehört allerdings den beiden indischen Elefantendamen Pitoly und Saida, die einst zum lebendigen Inventar des DDR-Staatszirkus gehörten. Etwa vier Tonnen bringt jede der inzwischen 39-jährigen dickhäutigen Damen auf die Waage. Pitoly und Saida fühlen sich offensichtlich wohl im bunten Durcheinander. Ihr Appetit ist daher riesengroß: 150 Kilo Heu, 80 Kilo Stroh, 8 Laibe Brot und rund 25 Kilo Gemüse verspachtelt jede täglich. So gesehen ist Fleischmann, der die Elefantennummer selbst aufführt, ein wahrer Überlebenskünstler, wenn er eine der Damen täglich zwei Mal auf sich legen lässt. Nicht auszudenken, wenn das Fressen zuvor knapp ausgefallen wäre oder Pfleger Ali nicht den Geschmack getroffen hätte. So bleibt die Angelegenheit eine Sache auf dem Seil. Stiliana ist Bulgarin, bildhübsch, und mit Mutter, Vater und Bruder seit mehr als einem Jahr bei den Charivaris. Die 17-Jährige beherrscht die Hochseilartistik und lebt für ihren Job. Sie ist Profi und lässt keinerlei Schwächen erkennen. Der Seiltanz, die älteste Zirkuskunst überhaupt, wird von ihr geradezu zelebriert: Sie überquert das Seil auf hölzernen Geishaschuhen. Als Stiliana vor Jahren zwischen einem künftigen Medizinstudium und dem Familienjob zu entscheiden hatte, wählte sie die Artistik. Also wunschlos glücklich? Fast, lächelt die »kleine« Bulgarin, etwas wachsen würde sie schon noch. Fleischmann, fast zwei Meter groß, hält alle Fäden in seiner Hand. Manchmal wird er laut oder flucht. Unwägbarkeiten, Unverständnis und Arroganz bringen ihn auf die berühmte Palme. Da wird man dünnhäutig, ohne es selbst zu merken. Zirkus bedeutet auch Schriftkram. Anträge müssen gestellt, Genehmigungen eingeholt und Verträge ausgehandelt werden. Behördengänge werden bisweilen zu einer nervtötenden Prozedur. Beleidigungen und Anspielungen gilt es zu schlucken. Manchmal. Aber nicht immer. Matey ist Stilianas Bruder. Ein Frauenschwarm, der keine Anstalten macht, sich gegen dieses Image zur Wehr zu setzen. Warum auch. Auf der Rola-Rola beherrscht er - wie im »normalen« Leben - seine Rolle(n). Auf dem Pidestal balanciert er auf bis zu sechs kreuzweise übereinander gelegten Rollen. Wenn er dann seinen Körper mit Reifen verknotet, wird die Sache noch richtig gefährlich. Der Beifall der Zuschauer und die Blicke der Mädchen sind ihm sicher. Matey schweigt und genießt. Und weiß: Ein Image-Problem haben nur jene, die kein Image besitzen. Fleischmann hat sein Image und schwimmt weiter gegen den Strom. Jede freie Minute fährt er in das neue Winterquartier nach Memleben. Dort hatte er mit seiner Frau zu Beginn des Jahres ein eigenes Gelände erworben. Er koordiniert den Umbau der Hallen, besorgt Material, erledigt Behördengänge. Oft steht er nachmittags wieder in der Manege, genießt den kurzzeitigen Ruhm und lässt sich wieder unter seinen Elefantendame »begraben«. Wenn genügend Geld in die Kasse kommt, dann geht es auch in Memleben weiter. Stück für Stück. Es ist ein ewiges Jonglieren. Michail Smyslov, der Charivari-Jongleur, kommt aus Moskau und verdiente dort beim Staatszirkus seine Brötchen. Dann wurde dort das Geld knapp. Jetzt lässt er bis zu sieben Keulen, neun Ringe und sechs Bälle in der Charivari-Manege durch die Luft wirbeln. Ein Artist, solide ausgebildet, bescheiden und mit dem Hang zum typisch russischen Humor. Den lebt er aus, bestreitet gemeinsam mit seiner Frau eine eigene Slapstick-Nummer mit Geigen, Saxophon und einer Steppeinlage. Irre komisch. Die Leute hier im Osten verstehen solchen Spaß und amüsieren sich köstlich. Weltberühmt wurde Smyslov übrigens mit der Jongliertruppe »Afanassiew«. Mit ihr gewann er beim internationalen Circusfestival in Monte Carlo einen silbernen Clown. Eine hohe Auszeichnung für einen Artisten: Es ist der Oskar der Zirkuswelt. Charivari zählt inzwischen zu den fünf größten Zirkusunternehmen in Deutschland. Jochen Fleischmann fühlt sich der künstlerischen Qualität verpflichtet. In diesem Jahr scheint ihm die optimale Choreografie gelungen zu sein. Jedes Teil passt und ergibt ein großes Ganzes. Riesiger Erfolg in Leipzig: Die Presse lobt das bunte Durcheinander als den besten Zirkus, der seit Jahren der Messestadt seine Aufwartung machte. Das geht runter wie Öl. Und sichert gute Engagements: In zwei Jahren, so der Wille der Stadtväter, soll Fleischmann wieder kommen. Dann ein dickes Lob im Fachblatt der Branche, der einflussreichen Zirkus-Zeitung. In einem Vergleich mit Berolina schneidet Charivari sehr gut ab und wird als derzeit bestes ostdeutsches Unternehmen empfohlen. Berolina bekommt statt dessen zwischen den Zeilen eine schallende Ohrfeige. Gleichfalls aus der Artistenschmiede in Moskau hat Katja den Weg zum Staatszirkus-Nachfolger gefunden. Der umworbene Importschlager zeigt eine höchst gefährliche Kunst, die darin besteht, verschiedene messerscharfe und spitze Säbel und Degen Spitze auf Spitze über ihren zurückgebeugten Körper zu balancieren, und damit sogar eine rotierende Leiter zu übersteigen. Die Russin ist zugleich für die Darbietungen des hauseigenen Balletts zuständig. Sie selbst ist mit sich und ihren tanzenden Kolleginnen unzufrieden. Die Zuschauer sind hier allerdings anderer Auffassung. Fleischmann treibt seine Leute nicht nur zu künstlerischer Qualität, sondern auch zu ausgereifter Logistik. Denn anders ist das jährliche Pensum nicht zu bewältigen - etwa 75 Städte sucht der Tross jährlich auf. Da wird nachts umgesetzt, und binnen sieben Stunden steht alles auf seinem Platz. Selbst das Zelt ist aufgestellt und komplett eingerichtet. Jeder ist hier ein Rädchen im Getriebe. Ein winziges Körnchen lässt es bedrohlich knarren. Stehen geblieben ist es allerdings noch nie, beschwört Fleischmann. Sie gibt es noch, die originale hausgemachte Zirkusmusik. Wenngleich Fleischmann sich mit der Ansage der einzelnen artistischen Nummern ansonsten zurückhält, hier schreitet er ein: In einer Zeit des Auftauens und Wiedereinfrierens sei es ihm eine besondere Freude, auf ein Live-Orchester hinweisen zu können. Die Charivari-Musiker unter der Leitung von Andrzej Wardalinski. Der Konkurrenzdruck unter den mehr als 300 Zirkusunternehmen ist enorm. Und der Neid schier grenzenlos. Erfolge und Niederlagen, Pleiten und Höhenflüge verkünden sich wie von selbst. Der Buschfunk arbeitet fleißig. Kaum ein Gastspielort, an dem nicht ein Späher gesichtet wird. Wenn es einem gut geht, nimmt man die Spielchen gelassen. Ansonsten kommen die Besuche Erniedrigungen gleich. Die Macher fühlen so. Doch sagen will es keiner. Auch das ist Marktwirtschaft. Gespart wird überall, auch im Zirkus. Was nicht unbedingt angeschafft werden muss, auf das wird verzichtet. Nur die Lebewesen zählen. Die Tiere erhalten ihr Futter und die Mitarbeiter pünktlich ihre Gage. Alles andere steht hinten an. Die Zirkuswelt wird bisweilen mit einem nostalgischen Touch versehen. Für jene jedenfalls, die sich gelegentlich die Lüfte der Manege um ihre Nasen wehen lassen. Als Besucher vielleicht. Und das soll auch so sein. Die Blicke der Macher sind dagegen kaum verklärt. Sie kämpfen sich durch, manche irgendwie, andere so recht oder schlecht. Wenn die Wagen vor dem Wintereinbruch ins Quartier gerettet werden, kommt auch die Stunde der Wahrheit. Einige fahren dann im Frühjahr wieder in die Städte, andere bleiben, wo sie gerade sind. Für sie wird die bunt schimmernde Zirkuswelt zur Vergangenheit. Vielleicht plötzlich. Aber nicht unerwartet.

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