Der Einzelne und die Wahrheit

Theatertreffen: Lukas Langhoff zeigt Ibsens »Volksfeind« mit dem Theater Bonn

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Einzelne und die Wahrheit

Es ist dunkel im Zuschauerraum. Zwei Stunden lang wird es nicht heller. Den Stift, mit dem ich mir Notizen machen wollte, stecke ich weg. Vorn auf der Bühne ist wenigstens Licht, manchmal blendend grell - aber auch die dort oben sehen nichts.

Ibsens »Volksfeind« ist ein Stück über die Blindheit. Der Blindeste von allen ist Badearzt Thomas Stockmann, ein Philanthrop, ein Aufklärer, ein Reformer. Er war es, der die Kleinstadt zum Badeort machte - aber nun hat sich herausgestellt, dass das Wasser verseucht ist, ausgerechnet aus der Fabrik seines Schwiegervaters kommt der giftige Schlamm. Da hilft nur: Weg mit dem alten Schmutz! Alles muss neu aufgebaut werden. Im Namen der Wahrheit und der Volksgesundheit! Einer gegen alle. Ibsens »Volksfeind« ist in seinem Wahrheitsfanatismus eine Fortsetzung von Kleists »Michael Kohlhaas«. Wenn die Masse ohnehin erkenntnisunfähig ist, brauchen wir dann den großen Einzelnen, der als Retter kommt, einen Führer aus dem moralischen Sumpf? Den Nazis gefiel der »Volksfeind«, es gibt eine Verfilmung von 1937 mit Heinrich George als Badearzt.

Die Frage, wie sich ein nicht hinnehmbarer Zustand der öffentlichen Apathie, der Korruption, der moralischen Verkommenheit überwinden lässt, stellt sich auch heute in Zeiten von Flugschriften wie »Der kommende Aufstand« oder »Empört euch!«. Eine Demokratie, die sich über Mehrheitsentscheidungen konstituiert, scheint schwach. Dominieren nicht ohnehin ökonomische Interessenkonstellationen? Die Dinge allein so zu sehen, hieße, sehr arglos in Sachen Diktatur zu sein. Auch eine Diktatur der Moral ist eine Diktatur. - Der Fragen, die aus diesem Stück erwachsen, sind viele; sie können einem wahrlich den Schlaf rauben. Regisseur Lukas Langhoff hat es mit dem Theater Bonn unternommen, sie in größtmöglicher Radikalität anschaubar zu machen. Er geht - das war zu erwarten - an Ibsen ganz anders heran als sein Vater Thomas Langhoff vor dreißig Jahren mit »Gespenster« am DT. Lukas Langhoff setzt auf expressive Effekte, nimmt immer den breiten Pinsel. Am Anfang steht Falilou Seck als Stockmann auf der Bühne, im Glitzerjackett des Conférenciers. Er sagt schleimig anbiedernde Dinge über das wunderbare Publikum, das wunderbare Theater, die wunderbare Stadt ...

Dann holpert es, die glatte Performance gerät ins Stolpern und wir hören etwas von »Traumhölle« und »Regen aus Vogelkot«. Ach ja, Heiner Müller. Der gehört hier zwar nicht her, aber seine Texte zu hören, ist immer ein Gewinn. Wir sehen die Familie Stockmann am Tisch sitzen, immer wieder steht einer auf und beugt sich über das einzige Mikrofon in der Mitte des Tischs. Die beiden kleinen Kinder haben Wikingerhelme mit Hörnern auf den Köpfen und sagen im Vorbeigehen: »Langweilig!« Die ältere Tochter ist ausschließlich in einem exponierten Pionierleiterton zu vernehmen, sie singt immerzu Arbeiterkampflieder und betreibt Mitmachanimation für die Zuschauer.

Der comicartig-groteske Grundgestus der Inszenierung (die Kleinstadthonoratioren sind treffend karikiert!) könnte ein Schlüssel zum Verständnis sein, wenn sich hier nicht ein Problem zeigen würde: Anders als Herbert Fritsch, der voriges Jahr beim Theatereffen Ibsens »Nora oder ein Puppenheim« auf großartige Weise buchstäblich zu einem Puppenspiel verfremdete, fehlt Langhoff die gedankliche und szenische Präzision. Er benutzt seine - oft groben, vorsätzlich dilettantischen - Mittel zumeist plakativ. So schließt sich hier nichts auf, wie überhaupt die immer wiederkehrenden DDR-Analogien penetrant wirken, mitunter gar einen Zug ins Sentimentale bekommen. Die improvisierten Aktualitätseinschübe, ob zum Berliner Flughafendesaster, Bonns alt-neuer Provinzialität oder zum Spielstand im parallel stattfindenden Fußballbundesliga-Relegationsspiel, wirken überaus billig. Gänzlich unmotiviert wird dann in großen Buchstaben auf die Pappmauer mitten auf der Bühne »Hartz IV« geschrieben. Aha und nun? Das ist die Crux bei dieser Regie: Sie ist im Ganzen folgenlos.

Da werden Einflüsse von Johann Kresnik und Frank Castorf aus Lukas Langhoffs frühen Volksbühnentagen sichtbar, die hier auf gespenstische Weise konserviert erscheinen - gänzlich unverbunden als purer Aktionismus. Der Rhythmus der Inszenierung stimmt zu keiner Sekunde, eine eigene Handschrift wird nicht deutlich. Das ist schade, denn einige der durchaus kräftigen Bilder dieser zwei Stunden verpuffen so in bloßer Beliebigkeit.

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