Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif

In Hamburg droht der gemeinsame Unterricht von Behinderten und Nichtbehinderten am Spardiktat zu scheitern

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2011 mahnte die UNESCO Deutschland, Förder- und Sonderschulen aufzulösen und deren Kinder an Regelschulen zu unterrichten. Damit die Regelschulen diesem Anspruch gerecht werden können, bedarf es jedoch gewaltiger Anstrengungen. Die Schulen brauchen zusätzliches qualifiziertes Personal, aber nicht nur das: Der Film »Gemeinsam anders«, der am Mittwoch in der ARD lief, zeigte, dass die Inklusion nicht zum Nulltarif zu haben ist. Dennoch wird vielerorts, wie z.B. in Hamburg, versucht, die Umgestaltung kostenneutral zu halten. Im ersten Schritt werden Kinder mit »Förderbedarf Lernen, Sprache und Entwicklung« in den Regelschulbetrieb sukzessive eingegliedert, ohne dass es zu einer ausreichenden Versorgung kommt. Nicht zuletzt müssen Lehrkräfte dies ausbaden. Lena Tietgen sprach mit einer Sonderpädagogin aus der Hansestadt über die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Weil die Lehrerin berufliche Nachteile fürchtet, will sie anonym bleiben.

nd: Sie sind Sonderschullehrerin mit dem Förderschwerpunkt geistige, emotionale und soziale Entwicklung und arbeiten seit August 2011 parallel in einer Förderschule und in einer Stadtteilschule mit inklusivem Unterricht. Wie organisieren Sie diese Doppelbelastung?
An bestimmten Tagen wechsele ich in den großen Pausen zwischen der naheliegenden Stadtteilschule und der Förderschule. In der Inklusion arbeite ich ergänzend in Doppelbesetzung mit einem Fachlehrer oder Klassenlehrer. In der Förderschule unterrichte ich meist allein.

Wie schaffen Sie den Einstieg in die Klasse?
Ich bekomme den Auftrag von der Schulleitung, in bestimmten Klassen und Fächern zu arbeiten und bin stundenweise Kindern mit speziellem Förderbedarf zugeordnet. Wenn es gut läuft, gelingt es mir, mich einen Tag vorher oder in der Pause, mit dem entsprechenden Lehrer abzustimmen. Häufig ist es so, dass ich in die Klasse komme und situativ erfassen muss, was an Unterricht stattfindet. In Mathe beispielsweise finden in der Woche zwei Stunden ohne mich und zwei Stunden mit mir statt. Mir fehlen die zwei Stunden. Wenn es in dieser Zeit einen Themenwechsel gab, Schüler Schwierigkeiten hatten oder fehlten, muss ich mich in der Stunde oder kurz zuvor auf den aktuellen Stand bringen.

Und an der Förderschule?
An der Förderschule arbeite ich im Team in Klassen von 13 Schülern, für die ich den Unterricht entwickele, vorbereite, plane, auswerte. Geht es um komplexe Vorhaben, arbeiten wir zeitweise zu zweit in einer Klasse oder mit nur einem Teil der Schüler. Darüber hinaus strukturiert sich der Alltag ähnlich dem einer Regelschule. Vielleicht haben wir eine höhere Stundentaktung auf 90 Minuten. Was wir auch machen können, ist epochaler Unterricht. Das heißt, wir arbeiten zum Beispiel Ostern oder Weihnachten im Bereich Gesellschaft eine Woche lang nur zu historischen oder religiösen Fragen oder zu bestimmten Themen fächerübergreifend. Genauso kann ich auch mal vier Stunden Blockunterricht machen, um mit den Schülern am Computer zu arbeiten.

Gibt es charakteristische Arbeitsbedingungen an der Förderschule, die bei der Inklusion verloren gehen?
Ja. Wir haben in der Förderschule durch die kleine Klassenfrequenz viel mehr Spielraum, auf die individuellen Bedürfnisse unserer Schüler einzugehen. In meiner Schülerschaft ist das Konflikt- und Gewaltpotenzial recht hoch. Da geht es um Beleidigungen, Respektlosigkeit, Beschimpfungen in den Schulpausen, da geht es um Gewaltvorfälle und -androhungen, vor und nach der Schule, und ähnliche Dinge. Ich kann mir eine Unterrichtstunde nehmen, in der ich mit den Schüler über solche Vorfälle spreche. Es gehört zu meinem Förderkonzept, mit den Schülern anhand von Rollenspielen und anderen Angeboten bestimmte Situationen aufzuarbeiten, um dann mit ihnen problem- und lösungsorientiert Handlungsalternativen zu entwickeln. Diese Zeit kann ich mir in der Förderschule nehmen.

Das geht in der Stadtteilschule nicht?
In der Stadtteilschule funktioniert das während der Unterrichtszeit nicht. Vom Gymnasium ganz zu schweigen. Es gibt sicherlich Sozialpädagogen, die sich um solche Fragen kümmern. Aber sie nehmen nicht am Unterrichtsalltag teil und begleiten auch nicht so intensiv die persönliche Entwicklung der Schüler wie die Lehrkräfte dies tun können. Ich bin als Förderlehrerin speziell dafür ausgebildet, Bindung und emotionale Beziehung zu den Schülern herzustellen. Es geht dabei um Verlässlichkeit, Vertrauen und Sicherheit als Grundlage, damit Lernen gelingen kann.

Wie können Sie unter den Bedingungen an der Stadteilschule überhaupt eine Bindung zu den Schülern aufbauen?
Das ist mit Schülern meines Förderschwerpunkts sehr schwierig. In manchen Bereichen werden an fünf Tagen fünf unterschiedliche Lehrkräfte spezieller Art den Schülern zugeordnet. Trotzdem, ich muss sagen, egal wie kritisch sich meine Meinung anhört, die direkte Zusammenarbeit mit den Schülern und Lehrkräften vor Ort ist gut. Für alle ist es eine schwierige Situation, wenn ihnen eine völlig fremde Lehrkraft zugeordnet wird. Das Miteinander muss sich erst entwickeln.

Werden die vom Senat geplanten regionalen Bildungszentren mit Therapieangeboten und temporärer intensiver Beschulung diese Lücke nicht schließen?
Für mich ist im Moment die Entwicklung nicht absehbar. Unklar ist z.B., ob Schüler dorthin geschickt oder die Lehrkräfte in die Schulen geschickt werden. Zwar sollen die Förderschulen Lernen, Sprache, Entwicklung (LSE) durch diese Zentren ersetzt werden, aber mit welchem pädagogischen Konzept die Bildungszentren arbeiten werden, ist noch unklar. Klar ist nur der politische Wille, dass die Förderschulen in Hamburg aufgelöst werden.

Das klingt chaotisch.
So wie es momentan läuft, ist es kontraproduktiv. Fakt ist, dass jetzt schon im Rahmen der Inklusion die Mittel für die spezielle Sprachförderung an den Förderschulen - wir haben einen hohen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund - vom Hamburger Senat gestrichen wurden. Fakt ist auch, dass diese Mittel auf die Stadtteilschulen für die Inklusion aufgeteilt werden sollen. Wie die dann eingesetzt werden, liegt in Teilen im Ermessen der Stadtteilschulen.

Welche Forderungen hätten Sie an die Bildungspolitik und Schulverwaltung?
Wenn man differenzierten und individualisierten Unterricht entwickeln und Schülern entsprechende Angebote unterbreiten will, wenn man an ihrem Leistungsstand, an ihrem Förderbedarf, an ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen anknüpfen will, müssen zusätzliche Mittel in die Schulen gehen. Dazu gehören auch bauliche Maßnahmen. Im Moment weiß allerdings kein Mensch, woher die Mittel kommen sollen, um die Stadtteilschulen umzubauen oder besser auszustatten. Nehmen wir nur das Beispiel Differenzierungsräume, also Räume, in denen kleiner Gruppen von Schülern zu bestimmten Anlässen betreut oder unterrichtet werden. Diese gibt es nicht zum Nulltarif. Durch diese Sparpolitik werden von vorn herein Maßstäbe gesetzt, die meines Erachtens die Inklusion scheitern lassen.

Sind Sie gegen die Inklusion?
Ich würde eine Schule für alle bevorzugen. Nur wenn man darüber spricht, muss man auch über eine Ausstattung und ein Konzept diskutieren, mit dem allen ein individuelles Lernen ermöglicht wird.

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