»Stapelstadt des Wissens und der Wissenschaft«

Stippvisite in Jena: Lebendige Harmonie von Laboratorium der Moderne und konservierter Historie

  • Roland Mischke
  • Lesedauer: 5 Min.

Anke aus Duisburg will nie wieder weg. »Ich hätte nicht geglaubt, dass ich in Ostthüringen landen würde«, sagt sie. Als Studentin der Geografie kam sie, inzwischen ist sie Jenenserin. »Die Stadt ist groß genug, aber übersichtlich. Es gibt schöne Gassen, viel historisches Flair und moderne Gebäude, umgeben von 400 Meter hohen Muschelkalkhängen. Die Wissenschaftseinrichtungen sind gut geführt, die Uni ist kein Massenbetrieb. Das mittlere Saaletal liegt als Ausflugsziel direkt vor der Stadt. »Das gefällt mir«, kommentiert sie. Und kann es sich nicht verkneifen anzumerken: »Was der Ruhrpott noch vor sich hat, hat Jena bereits hinter sich: den Wirtschaftsumbau durch richtiges Denken.«

Wer ankommt, sieht als erstes den schiefen Turm. Er trägt den nicht sehr glücklich gewählten Namen »JenTower«. Das 1972 entstandene Konstrukt aus Stahlbeton, kreisrund und 128 Meter hoch, mit einer »ausschließlich in der DDR entwickelten Fassade aus Schaumglas-Aluminium-Elementen«, so in einem vergilbten Reiseführer, sollte ein Monument des Realsozialismus sein, selbst vom Weltraum aus zu erkennen. Davor erstreckte sich der Platz der Kosmonauten, nun wieder der Eichplatz. Doch das beliebte Monstrum wird kaum das 21. Jahrhundert überstehen, weil es sich im weichen Untergrund immer weiter neigt. Einheimische nennen den 30-Etagen-Koloss despektierlich »Keksrolle« oder »Penis Jenensis«, sitzen aber gern oben im Restaurant »Scala«, wo einst die Sektion Marxismus-Leninismus der Uni residierte. Der Panoramaausblick ist grandios.

In der Altstadt ballt sich Tradition. Schillers Gartenhaus, das Fromannsche Haus, in dem Goethe der 18-jährigen Minna Herzlieb seine verliebten Sonette vorlas. Das Haus der Jenenser Romantiker, in dem die Erinnerung an die Schlegels und Fichte wachgehalten wird. Ein paar Ecken weiter der »Schwarze Bär«, eines der ältesten Wirtshäuser der Stadt, in der alle Geistesgrößen getafelt haben. Ein Bild zeigt Martin Luther im Kreis lustiger Zechkumpane. Gegenüber lag das Großherzogliche Schloss, in dem Minister Goethe zu übernachten pflegte, kam er von Weimar herübergeritten. Es gehörte zu seinen Aufgaben, Jena zu inspizieren. Vom Fenster aus sah er den Botanischen Garten mit dem Gingkobaum, dessen Zweige mit den gespaltenen Blättern heute den Bürgersteig überspannen. Manche Passanten pflücken beim Vorübergehen eines der berühmten Blätter - in Gedanken an Goethes Gedicht. Er schrieb in Jena am »Faust«.

Jena gehört zu Thüringen, hatte es aber bis ins 20. Jahrhundert mit sächsisch-ernestinischen Häusern zu tun, war also östlich ausgerichtet. Dadurch unterschied es sich von der Gruppe Residenzstädte wie Weimar, Meiningen, Gotha, Eisenach, Gera, Altenburg, Greiz oder Schleiz. Der Saale-Anrainer mit 104 000 Einwohnern war immer eine Stadt der Denker, vor allem des Forscher- und Erfindungsgeistes. Gedenkstätten, Gedenksteine, Büsten und 200 Gedenktafeln an Häusern erinnern daran. Das »Collegium Jenenser« wurde 1548 gegründet und machte Jena früh zum Zentrum europäischer Geistesgeschichte.

Diese stolze, aufklärerische Tradition ist fest verankert. Auch in DDR-Zeit gab es renitente Denker, die sich nicht an die verordnete Ideologie hielten, sondern unverdrossen demokratische Grundrechte anmahnten und dafür Repressalien hinnahmen. Über Mutige wie den Musiker Oliver Jahn, Frontmann der Band »Air Tramp«, aber auch Lutz Rathenow, Roland Jahn und andere, die in den achtziger Jahren eine Demo gegen Pershing- und Sowjetraketen organisierten, hielt Pfarrer Walter Schilling seine Hand; man traf sich in der Johannisstraße 14 im Haus der jungen Gemeinde. Draußen kontrollierte die Polizei Ausweise, drinnen wurden Transparente gemalt mit der Aufschrift: »Wir setzen uns für ein atomfreies Europa ein«. Punks, Skinheads und andere Randgruppen gestand der Staat solche Bekundungen nicht zu. »Wir mussten rennen, wenn sie kamen«, erinnert sich Oliver Jahn, »der Rio-Reiser von Jena«, 1987 als »Rädelsführer« und verdächtigter BND-Spion in den Westen abgeschoben. Nach der Wende kämpfte er um offizielle Rehabilitierung - und erhielt sie. Viele der aufmüpfigen Denker waren Studenten der Friedrich-Schiller-Universität.

Zu Jenas großen Denkern gehörten der dänische Märchendichter Christian Andersen, der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, der Mathematiker Gottlob Frege, die Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt, der Komponist Max Reger und Dichter wie Novalis und Friedrich Schiller. Aber auch Industrielle, wie die Physiker Carl Zeiss und Ernst Abbe und der Glaschemiker Otto Schott, die für den Innovationsgeist stehen, der in dieser Stadt nistet. Goethe nannte sie die »Stapelstadt des Wissens und der Wissenschaft«. Er selbst schreckte nicht vor dem Sezieren eines Toten zurück, wobei er einen Knochen entdeckte, der seitdem Goethe-Knochen heißt.

In den 1990er Jahren musste ein Teil des Zeiss-Hauptwerkes abgerissen werden, weil es marode war. Der Großteil der beeindruckenden Stahlbeton-Gebäude, einige aus der Bauhaus-Zeit, konnten aber erhalten werden und wurden mit modernen Funktionsbauten verbunden. In DDR-Zeit war es etwas Besonderes, zu den 30 000 Angestellten des Zeiss-Kombinats zu gehören, das Areal war wie eine geschlossene Stadt. Die Werktore stehen nun offen, mitten in der Stadt entstand ein Campus, und die einst lange Werkstraße bildet jetzt die Goethe-Galerie, eine Einkaufspassage. Heute treffen sich Studenten und Liebespaare an den Plastiken von Frank Stella, die Straßenbahn aus Lobeda bringt Gäste, Touristen schauen sich um. Im Zeiss-Gelände haben sich viele kleine Firmen gegründet, sie bilden das ökonomische Rückgrat der Stadt. Das umtriebige Probieren hat nach wie vor Heimrecht in der Denkerstadt.

Wenn Suzann Vega in der »Kulturarena« die Gitarre zu ihren Songs schlägt, ist ein aufgewecktes Publikum da. Institutionen wie das Optische Museum mit der historischen Zeiss-Werkstatt und das dienstälteste Planetarium der Welt sind sehenswert. Wie man Alt und Neu geschickt verbindet, das führt die Stadt am »Sonnenhof« vor, einem aus dem Altbau entwickelten Wohn- und Büroprojekt am Markt, in einer altehrwürdigen Umgebung mit Bürgerhäusern und der Gedenkstätte der deutschen Frühromantik. Ach, ja, auch die deutsche Romantik wurde in der Denkerstadt kreiert.

Infos: Jena Tourist-Information, Markt 16, 07743 Jena, Tel.: (03641) 49 80-50, Fax: -55, E-Mail: tourist-info@jena.de, www.jena.de

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