Meilenstein ohne Schliff

  • Sarah Häuser
  • Lesedauer: 3 Min.
Sarah Häuser ist Chemikalienexpertin des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND).
Sarah Häuser ist Chemikalienexpertin des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND).

Etwa 30 000 Chemikalien gibt es auf dem europäischen Markt, die in Tausenden Alltagsprodukten wie Handys, Regenjacken, Bodenbelägen oder Spielsachen enthalten sind. Tag für Tag kommen wir mit den Chemikalien in Berührung, nehmen sie über die Nahrung oder unsere Haut auf und atmen sie ein. Chemikalien sind in unserem Blut inzwischen so »normal« wie rote und weiße Blutkörperchen. Das Problem: Wir wissen nur von einem Bruchteil der Chemikalien, wie gefährlich sie für Mensch und Umwelt sind.

Ein unhaltbarer Zustand. Dies sollte REACH ändern, gedacht als Meilenstein in der europäischen Umweltgesetzgebung. REACH steht für Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Substanzen. Mit dieser EU-Verordnung wurde die Industrie ab Juni 2007 erstmals dazu verpflichtet, Daten über die Umwelt- und Gesundheitsfolgen ihrer Chemikalien vorzulegen - als Voraussetzung, damit diese überhaupt vermarktet werden dürfen. Bis dahin mussten schädliche Wirkungen erst vom Gesetzgeber nachgewiesen werden, bevor eine Chemikalie verboten werden konnte. Dank REACH wurde die Beweislast umgekehrt.

Grundsätzlich eine gute Idee, für die sich Umwelt- und Verbraucherschutzorganisationen viele Jahre auf EU-Ebene ein- und schließlich gegen die übermächtige Chemielobby auch durchgesetzt haben. Doch fünf Jahre nach dem Inkrafttreten der europäischen Chemikalienverordnung ist die Bilanz ernüchternd: Die Umsetzung von REACH läuft äußerst schleppend. Menschen und Umwelt sind weiterhin unzureichend geschützt.

Nur 73 Chemikalien wurden in den letzten fünf Jahren als »Verbotskandidaten« identifiziert - von schätzungsweise 2500 Stoffen, die aufgrund ihrer Gefährlichkeit eigentlich verboten werden müssten. Keine einzige der Chemikalien wurde bislang durch REACH vom Markt genommen, obwohl für die meisten die dafür erforderlichen Informationen vorliegen. Der Verbraucher kann sich nur schützen, indem er eine Anfrage an den Hersteller oder den Handel stellt, ob ein Produkt eine dieser Chemikalien enthält. Hinzu kommt, dass die Chemieindustrie nur lückenhafte Informationen über ihre Chemikalien liefert. Eigentlich sollte die Öffentlichkeit Zugang zu qualitativ hochwertigen Daten über alle Substanzen bekommen, die unter REACH fallen. Die Realität sieht anders aus: Die europäische Chemikalienagentur ECHA überprüfte im letzten Jahr stichprobenartig die von Unternehmen eingereichten Dokumente und stellte fest: 134 von 146 Dossiers enthielten teils gravierende Informationslücken. Außerdem wurden nur fünf Prozent der Dokumente von der ECHA überprüft und wichtige Angaben wie der Name des Unternehmens oder die Produktionsmenge nicht veröffentlicht. Der Mangel an Informationen und fehlende Kontrolle führen dazu, dass viele möglicherweise gefährliche Substanzen nicht als solche identifiziert werden können.

Wer den Verbraucherschutz wirklich ernst nimmt, muss zügig umwelt- und gesundheitsschädliche Chemikalien vom Markt nehmen und sie ersetzen. Er muss Unternehmen verpflichten, hinreichende Informationen über ihre Substanzen abzuliefern. Und er muss die Verbraucher über die Gefahren von Chemikalien informieren. Alles Punkte, die REACH vorsieht, die aber nicht ausreichend umgesetzt werden.

Der »Meilenstein« REACH muss modernisiert und geschliffen werden, damit er seine Bestimmung erfüllt. Ansonsten sollten die Mitgliedstaaten zum Schutz der Verbraucher mit nationalen Maßnahmen reagieren. So wie Frankreich: Es hat die hormonähnlich wirkende Risikochemikalie Bisphenol A in allen Lebensmittelverpackungen verboten.

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