Das letzte Wort ist nicht gesagt

Die Brüder Hilsenrath: ein Doppelporträt von Volker Dittrich

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 4 Min.

Woran denken wir, wenn wir den Namen Edgar Hilsenrath hören? Zuerst natürlich an die Titel seiner einzigartigen, bitter-grotesken Romane: »Nacht«, »Der Nazi & der Friseur«, »Fuck Amerika - Bronskys Geständnis«, »Jossel Wassermanns Heimkehr«, »Berlin ... Endstation«, oder - mein bevorzugtes Buch - »Das Märchen vom letzten Gedanken«. Übrigens findet sich in diesem hier vorliegenden Erinnerungsbuch der Brüder Edgar und Manfred Hilsenrath eine Art Liebeserklärung Manfreds an den Armenierroman seines Bruders Edgar. Dazu später!

Zugleich kommt mir ein Begriff ins Gedächtnis, den der Hilsenrath-Herausgeber Helmut Braun geprägt hat, indem er von einem »Wahnsinnsbrocken Trauer« sprach. Wie eine düstere Wolke liegt über Edgar Hilsenraths gesamtem Werk die Trauer, die selbst dieses Doppelporträt überschattet. Darüber täuscht seine drastische, verknappte, oft komische, manchmal zärtliche Sprache nicht hinweg. Schließlich fällt mir der provozierende, auf ein ureigenes Recht insistierende Satz Edgar Hilsenraths ein, er sei in die deutsche Sprache verliebt. »Deutsch war nicht die Sprache der Nazis. Es war meine Sprache.«

Volker Dittrich, Verleger und - durch gemeinsame Vortragsreisen in den letzten Jahren - ein Vertrauter des Schriftstellers, wählte für das Buch eine ungewöhnliche Darstellungsform. Er lässt die beiden Brüder, zwei sehr verschiedene Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensvorstellungen und extrem unterschiedlicher Ausdrucksweise, wechselseitig zu Wort kommen, den einen durch Erzählen, den anderen durch fiktional verarbeitete Erinnerung, einfacher gesagt, durch Texte aus den Büchern. In diesem Wort-Wechsel werden beider Lebenswege, wird die Vergangenheit und damit ein »Brocken Trauer« deutsch-jüdischer Geschichte des 20. Jahrhunderts lebendig. Das geht unter die Haut.

Formal haben wir es weder mit einem Dialog, noch mit einem Gespräch zu tun. Aber hinter den Erinnerungen, besonders in den Briefen Manfreds, scheinen unausgesprochen Gedanken an Sorge und Verantwortung auf, und letzteres hat begrifflich mit Antwort und Dialog zu tun.

Dittrich stellt zu Beginn die Brüder kurz vor: Manfred Hilsenrath, von Jugend an mathematisch-naturwissenschaftlich orientiert, ging in die USA, wurde Ingenieur und arbeitete jahrelang als Computerfachmann und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am NASA-Raumforschungsprogramm. Heute lebt er, familiär-gutbürgerlich und weltoffen, in Arkansas.

Edgar Hilsenraths Lebensweg seit Beginn seines Schreibens von »Nacht« in einem kleinen Bistro oder Café meinen wir aus seinen biografisch grundierten Romanen zu kennen. Die Kindheit verbrachten die Brüder (Edgar geb. 1926, Manfred geb.1929) in Halle. 1938 ging die Mutter, um den Nazis zu entkommen, mit den Söhnen zu den Großeltern nach Sereth in der Bukowina. Drei Jahre später wurden sie in das Ghetto Moghilev-Podolsk deportiert. Sie überlebten, bis die Rote Armee das Ghetto befreite. Edgar schlug sich auf abenteuerlicher Weise nach Palästina durch. Manfred gelangte mit der Mutter zum Vater nach Lyon. 1947 kam auch Edgar, der in Palästina nicht Fuß fassen konnte, dorthin. Beide Brüder gingen in die USA, der eine brachte es durch Fleiß und Tüchtigkeit auf die höheren Sprossen der etablierten Gesellschaft, der andere blieb am am unteren Rand, hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und - wollte nur eins: schreiben. Er schrieb gegen das Vergessen, und er schrieb zur Selbstheilung. Die Vergangenheit ließ ihn nicht los, sein Bruder Manfred schaute nach vorn. 1975 wandte Edgar Hilsenrath der »schönen, neuen Welt« den Rücken zu, ging nach Deutschland.

Volker Dittrich, seit 2004 mit Edgar Hilsenrath persönlich bekannt, flog im Mai 2011 nach Arkansas, wo Manfred Hilsenrath ihm bereitwillig aufs Tonband sprach, von seiner und Edgars Vergangenheit erzählte. In Verbindung mit entsprechenden Textauszügen aus Romanen Edgar Hilsenraths entstand ein spannungsvolles Buch, das ein Sprechen des Romanautors mit sich selbst und der Vergangenheit weiter aufbrechen könnte. Das Gespräch zwischen den Brüdern und das zwischen Autor und Verleger ist inzwischen verstummt. Besonders im Hinblick auf die Buchveröffentlichungen ist das zu bedauern, aber das letzte Wort ist wohl noch nicht gesagt. Wir Leser wenden uns erneut den Romanen zu.

Schöneres, als Manfred seinem Bruder 1989 über »Das Märchen vom letzten Gedanken« schrieb, ist kaum denkbar: »Edgar, dies ist ein Meisterwerk! Wunderbar, wie Du heikelste Gedanken ausdrücken kannst, es ist wie ein schön gewebter Teppich, der gleichsam wie ein Traum über der Welt schwebt.« Eine Geste vom Bruder zum Bruder, mit dem er als Jugendlicher die Hölle überlebte.

Volker Dittrich. Zwei Seiten der Erinnerung. Die Brüder Edgar und Manfred Hilsenrath. Dittrich Verlag. 254 S., geb., 17,80 €.

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