So viele Völker, so viele Sitten

Odessa feiert seine Weltoffenheit und beklagt, dass die EM in der Ferne blieb

  • Lesedauer: 4 Min.

In Odessa führt der Weg zum Fußball über 192 Stufen. Es sind weltberühmte Stufen. An den Potjemkinschen Treppen hat die Millionenstadt am Schwarzen Meer ihre EM-Fanmeile aufgebaut, genau unterhalb jener Treppe, auf der in Sergej Eisensteins legendärem Film »Panzerkreuzer Potjemkin« rücksichtlose zaristische Soldaten wahllos in die Menschenmenge feuern.

Auch am Abend des Halbfinales Deutschland gegen Italien strömen hunderte Menschen über die Treppen nach unten, allerdings deutlich langsamer als in Eisensteins kühnem Meisterwerk von 1936. Wo im Film ein Kinderwagen die steile Treppe hinunterpolterte, herrscht anno 2012 Nachtleben à la Ukraine: Skateboarder üben ihre Tricks, fliegende Händler verkaufen Freundschaftsbändchen, für ein paar Cent dürfen Touristen eine Eule, eine Taube oder auch eine Riesenschlange auf den Arm nehmen. Ein Betrunkener schnarcht auf einem Steinquader.

Am selben Tag hat Odessas Bürgermeister noch einmal beklagt, dass seine Stadt nicht als EM-Spielort berücksichtigt wurde: »Alles hätte gepasst, gute touristische Infrastruktur, neues Stadion, modernisierter Flughafen. Es ist bitter, dass die EM um Odessa einen Bogen gemacht hat.«

Ein wenig EM-Wehmut in Odessa, der Perle am Schwarzen Meer, in der »internationalsten« Stadt des Landes mit ihrer wild gemischten Einwohnerschaft: Griechen, Armenier, Polen, Russen, Moldawier und Ukrainer wohnen hier friedlich zusammen, die Odessiten rühmen sich ihrer Weltoffenheit, die schon vor zweihundert Jahren ihren Statthalter, den Herzog von Richelieu, erstaunte: »Noch nie versammelten sich in einem Land auf derart kleiner Fläche Angehörige so vieler Völker, deren Sitten, Sprachen, Kleidung und Konfession und Bräuche sich so sehr voneinander unterschieden.« Richelieu ließ eine Oper bauen: Wer abends gemeinsam ins Theater geht, wird sich am Tage nicht bekriegen. Es funktionierte.

2012 hätte Fußball dieses verbindende Element sein sollen, zumal die Stadt mit dem 34 000 Zuschauer fassenden, 80 Millionen Euro teuren Tschernomorjez_Stadion eine EM-würdige Arena besitzt. Doch stattdessen: Donezk, Charkow, Kiew, Lwiw! Was der Bürgermeister nicht verraten hat: Odessa war einfach zu spät. Anfangs bemühte man sich überhaupt nicht um die Ausrichtung von EM-Spielen, weil man eh nicht daran glaubte, dass die Ukraine den Zuschlag von der UEFA bekommen würde. Aus dem selben Grund ist dann auch Dnjepropetrowsk unberücksichtigt geblieben, das sogar einen deutlich mächtigeren Oligarchen zu bieten hat als die quirlige Urlaubsstadt Odessa.

Wer am Donnerstagabend durch die überfüllten Gassen am Hafen spaziert, kann in den Gesichtern die unzähligen Nationalitäten erahnen, die sich in dieser Stadt tummeln. Es ist Feiertag, der Tag der Unabhängigkeit der Ukraine. Auf dem Primorskij-Boulevard flanieren die Wochenendtouristen kreuz und quer. In Odessa sieht man wenig von der Isolation, in die sich die Ukraine angeblich begibt.

»Es geht in Odessa wirklich bunt durcheinander mit den Nationalitäten«, erzählt Natascha, eine Studentin und geborene Odessitin. »Nehmen sie mich als Beispiel für unsere Weltläufigkeit: Meine Tante ist Griechin, ihr Vater ist einst unter Stalin hingerichtet worden, weil er sich für die Sache der Griechen stark gemacht hat. Mein Vater ist Schiffsingenieur, er lebt in Wien. Meine Oma wiederum ist Moldawierin, die jetzt aber in Transnistrien lebt.« Natascha erzählt, sie besuche die Oma regelmäßig in Tiraspol. In drei Stunden erreicht man die Hauptsstadt des Zwergstaates per Bus von Odessa. »Es ist beschwerlich, aber: Fahren Sie mal hin!«

Auf der Odessaer Fanmeile unweit der Potjemkin-Treppe ist am Donnerstag der kosmopolitische Geist der Odessiten zu erleben. Vielleicht tausend Leute sitzen oder stehen auf einem Dock des Hafens und sehen auf die große Leinwand, die in Blickrichtung Meer aufgebaut wurde. Dahinter ragen Hafenkräne in den roten Abendhimmel. Italien gegen Deutschland: Viele junge Leute sind gekommen, ein paar tragen blaue Italia-Trikots, zwei Teenager aus Deutschland singen fröhlich ihre Lieder. Dann trifft Mario Balotelli, 1:0 für Italien. Die Menge jubelt. Mesut Özil gelingt bald darauf ein Dribbling samt Zuspiel, jetzt wird ihm applaudiert: »Jesil, Jesil!« ruft einer - türkische Namen sind für Ukrainer schwer zu auszusprechen. Dann das 2:0 durch Balotelli. Auf der Fanmeile herrscht Begeisterung, nur die Teenager in den DFB-Trikots sind still geworden. Der späte Elfmeter von »Jesil« ganz zum Schluss wird noch einmal höflich bejubelt, doch beim Abpfiff brechen alle auf. Nach zehn Minuten ist die Fanmeile geleert.

Auf dem Heimweg erinnern an allen Ecken blinkende Reklamen für Nachtclubs und Stripbars daran, dass sich in Odessa viele Probleme des Landes wie unter einem Brennglas zeigen: Die Ukraine hat die höchste AIDS-Rate in ganz Europa, die Stadt Odessa ist nationaler Spitzenreiter, 40 000 Einwohner sind infiziert. Womöglich auch das ein Grund, warum die EM dieser Stadt fernblieb.

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