Erich Honecker - ein Jahrhundertleben

Bergarbeitersohn und Jungkommunist, Widerstandskämpfer und Zuchthaushäftling,, FDJ-Vorsitzender und Parteifunktionär, Generalsekretär und Gescheiterter

  • Günter Benser
  • Lesedauer: 7 Min.
Vor 100 Jahren wurde Erich Honecker geboren. Ein Mann, der Geschichte geschrieben hat. Ein Politiker, der für den antifaschistischen Neubeginn in der DDR nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso steht wie für die Defizite und das Scheitern des realen Sozialismus. Der Historiker Günter Benser und fünf nd-Redakteurinnen und -redakteure erinnern an eine widersprüchliche Persönlichkeit.

Wenn von den historischen Gestalten des hinter uns liegenden Jahrhunderts die Rede ist, gehört Erich Honecker dazu - nicht als Vertreter der ersten Reihe, aber doch als einer jener Politiker, die an Schalthebeln der Macht diese Epoche maßgeblich mitgeprägt haben. Solange das historische Urteil über die hinter uns liegende weltweite Auseinandersetzung zweier Gesellschaftssysteme so auseinanderdriftet, wie das derzeit der Fall ist, wird auch die Rolle ihrer Hauptakteure zwiespältig bewertet werden.

»Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.«
Karl Marx

Was wissen wir überhaupt über das Leben Erich Honecker und woher stammt dieses Wissen? Viele Leser dieser Zeitung haben noch ihr eigenes Bild vom Generalsekretär der SED und Staatsratsvorsitzenden der DDR, wie er ihnen im Fernsehen oder auch direkt auf Kundgebungen, bei Demonstrationen, vielleicht auch auf Kongressen und Tagungen begegnet ist. Aber da handelt es sich letztlich um Inszenierungen. Honeckers schriftliche Überlieferungen sind reichlich. In zwölf Bänden gedruckt wurden seine Reden und Aufsätzen. Doch das sind überwiegend in kollektiver Arbeit entstandene Verkündungen oder Texte von Redenschreibern. Natürlich hat Honecker Eigenes beigetragen und sich mit den Inhalten identifiziert. Insofern widerspiegeln solche Texte durchaus seine Überzeugungen und seine Positionen zu vielen Fragen der Gesellschaftspolitik. Aber das Ureigene dieses Mannes kommt hier kaum zum Vorschein. In den reichen archivalischen Überlieferungen ist da schon mehr ablesbar.

Einblicke in das Innenleben Honeckers gestatten am ehestens die nach seinem Sturz verfassten Niederschriften, vor allem die jüngst erschienenen, ursprünglich nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen »Letzten Aufzeichnungen«. Denn selbst die 1981 erschienene Autobiografie »Aus meinem Leben« war von Historikern und Journalisten entworfen worden. Vor allem von Journalisten westlicher Provenienz wurden mehr oder weniger einfühlsame Honecker-Biografien verfasst, die in ihrer Grundtendenz dem Trend der Delegitimierung der DDR folgen, teils trotzdem dem Antifaschisten Honecker Gerechtigkeit widerfahren lassen und den Prozess gegen den todkranken ehemaligen Generalsekretär distanziert betrachten. Eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Honecker-Biografie steht noch aus, sie könnte wohl derzeit am ehesten von einem ausländischen Autor geschrieben werden.

Helmut Schmidt hat in einem Interview prophezeit, dass in einigen Jahren kein Kind mehr mit dem Namen Honecker etwas anzufangen weiß. Das könnte Helmut Schmidt ebenso passieren. Aber das sagte dann weniger etwas über die historische Rolle von Honecker und Schmidt aus als über das Niveau des Geschichtsunterrichtes an unseren Schulen. So sollte der 100. Geburtstag Erich Honeckers Anlass sein, sich seiner zu erinnern und über die Vita Honecker nachzudenken, zu fragen, was diesen Mann geprägt hat, wie sein Aufstieg und sein Absturz zu erklären sind und welche Spur er in der Geschichte gezogen hat.

Noch immer gilt - und auf den Funktionär Honecker trifft das in besonderem Maße zu - was Karl Marx schrieb: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.« Zu diesen sein Leben wesentlich bestimmenden Umständen gehörten zunächst seine Familie und das soziale Umfeld, in dem er heranreifte.

Als Sohn eines Bergarbeiters im saarländischen Neunkirchen am 25. August 1912 geboren, wuchs er mit zwei Schwestern und einem Bruder in bescheidenen Verhältnissen auf. Zwei Jahre nach seiner Geburt begann der Erste Weltkrieg, in dessen Gefolge die Einheit der deutschen Arbeiterbewegung endgültig zerbrach. Zwar gehörte Honecker nicht jener Generation an, die durch ihre Fronterlebnisse radikalisiert wurde und die typischen Vertreter der während der Novemberrevolution gegründeten KPD stellten, aber seine Sozialisation erfolgte in dem durch diese geprägten proletarischen Lebenskreis. So ergab es sich fast wie von selbst, dass er als Zehnjähriger zu Jung-Spartakus kam, sich mit Vierzehn dem Kommunistischen Jugendverband und mit Siebzehn der KPD anschloss. Nicht selbstverständlich war, dass er schon bald hauptamtlicher Jugendfunktionär wurde und zum Politischen Leiter der Bezirksleitung Saargebiet des KJVD aufstieg. Dazu bedurfte es besonderer politischer und organisatorischer Befähigung.

Überzeugungstreue und Mut bewies Honecker, als er sich den Nazis widersetzte. Der Volksschüler hat mit seinem Verständnis von Gesellschaft und Politik die Nazis weitaus früher durchschaut als viele jener gutsituierten Bürger, die sich für das gebildete Deutschland hielten, und gründlicher als mancher Politiker der Vorläuferorganisationen heutiger Regierungsparteien. Hingegen hat er den Stalinschen Terror in seiner unerhörten Brutalität zeit seines Lebens nie öffentlich angeklagt.

Die Verurteilung zu zwölf Jahren Zuchthaus beraubte den damals 23-Jährigen der besten Jahre seines Lebens. So betrat er nach der Befreiung als tadelfreier Antifaschist und erfahrener Jugendfunktionär die politische Bühne. Er wurde Vorsitzender der Freien Deutschen Jugend in jenen Jahren als diese Organisation große Anziehungskraft besaß und sich bleibende Verdienste bei der Einbeziehung der jungen Generation in den antifaschistisch-demokratischen Neuaufbau erwarb. Er war aber auch derjenige, der im Auftrage der SED die Aufhebung des überparteilichen Charakters dieser Jugendorganisation und ihre Umwandlung in eine Kampfreserve der Partei betrieb.

Der Weg an die Spitze eröffnete sich für Honecker, als er 1950 Kandidat des Politbüro und damit jüngster Angehöriger der engeren Führung wurde, vor allem aber als ihm Jahre später als Vollmitglied und Sekretär des Zentralkomitees Schlüsselpositionen vor allem im Sicherheitsbereich übertragen wurden. Und da sind wir wieder bei den vorgegebenen Umständen. Der SED-Funktionär Honecker hat sich nie einer Kampfabstimmung stellen, nie den Nachweis erbringen müssen, dass er der Befähigteste für die Besetzung eines Amtes ist. Seine politische Karriere war das Ergebnis kommunistischer Kaderpolitik, für die Zustimmung der Basis nicht erforderlich und Disziplin und Einsatzbereitschaft wichtiger als Kompetenz war. Seiner Kür zum Generalsekretär war ein schäbiges, zur Ablösung Walter Ulbrichts führendes Komplott mit dem KPdSU-Chef Breshnew vorausgegangen. Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, wie Honecker den höchsten Funktionen in Partei und Staat gerecht geworden ist.

Haften geblieben sind im Gedächtnis der Zeitgenossen vor allem der verdrängte Reformstau und die Distanz zur Perestroika, die Endkrise der DDR mit einem hilflos-trotzigen und gegen die Opposition gewaltbereiten Honecker. Doch Honecker war fast zwei Jahrzehnte in den höchsten Ämtern. In seine Amtszeit fällt auch die mit dem VIII. Parteitag eingeleitete, die Bedürfnisse der Bevölkerung stärker beachtende Sozialpolitik, der Durchbruch zur internationalen Anerkennung der DDR, das Mitwirken am KSZE-Prozess und die deutsch-deutsche Entspannungspolitik, die eigenständige Position der DDR gegen die Stationierung nuklearer Raketensysteme in Mitteleuropa.

Als Staatsmann stieß Honecker an seine Grenzen, erwies er sich letztlich als überfordert. Aber auch hier wollen die vorgefundenen Umstände bedacht sein. Er war der erste Mann eines Landes, dessen Handlungsspielräume durch die Überlegenheit des mächtigeren deutschen Staates Bundesrepublik und durch die Abhängigkeit von der UdSSR arg eingeschränkt waren. Elementare Kampfziele seiner Jugend - Arbeit, Brot, bezahlbare Wohnung, Recht auf Bildung, soziale Sicherheit - behielten für ihn immer den Stellenwert eines obersten Staatszieles. Weit weniger verstand er von den schwierigen Voraussetzungen einer florierenden Wirtschaft, die all dies ermöglichen kann.

Die Kernfrage war und blieb für ihn die Frage der Macht, und zwar einer von oben nach unten agierenden, Repressionen gegen Andersdenkende und Andershandelnde einschließenden Macht. Verdächtig waren ihm ein über die Befriedigung der elementaren Lebensbedürfnisse hinausgehende Anspruch auf ein selbstbestimmtes, durch Partei und Staat nicht vereinnahmbares Leben. Honeckers Jugenderlebnis von einer Gemeinschaft Gleichgesinnter, sich einer Kampforganisation unterordnender Genossen schien ihm auf ein ganzes Land übertragbar und über Generationen hinweg fortpflanzbar zu sein. Doch gerade in schwierigen Zeiten hätte es einer von unten gewachsenen, nicht von oben gesetzten Solidargemeinschaft bedurft.

Gleichwohl ist die mit sozialistischem Anspruch verfochtene über Jahrzehnte hinweg Hoffnungen weckende antikapitalistische Alternative nicht in erster Linie von Erich Honecker zu Grunde gerichtet worden; sie ist zuvörderst in der sozialistischen Weltmacht UdSSR gescheitert.


Prof. Dr. Günter Benser, Jahrgang 1931, wurde im Herbst 1989 Direktor des in Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung umbenannten Instituts für Marxismus Leninismus (IML); der Autor zahlreicher historischer Monografien und Mitherausgeber von Dokumentenbänden ist Mitglied der Historischen Kommission der LINKEN.

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