Ein Esel schreit nicht

Kurt-Tucholsky-Gesellschaft auf Spurensuche in den Pyrenäen

  • F.-B. Habel
  • Lesedauer: 8 Min.
In meinem Herzen liegt eine kleine Flocke, eben geboren, ein Ei: Sehnsucht nach den Pyrenäen.
Im Jahre 1927 veröffentlichte Peter Panther in Berlin »Ein Pyrenäenbuch«. Er schilderte seine Reise durch das Gebirge, das Frankreich und Spanien trennt und zugleich verbindet, mit teils sarkastischem Witz, auch mit Liebe, voller Detailbeobachtungen, und durchaus immer wieder abschweifend, so, wie es seine Leser von ihm erwarteten. Peter Panther war ein Pseudonym, aber manch Eingeweihter wusste, dass sich dahinter Dr. Kurt Tucholsky aus Berlin verbarg. Er hatte damals seiner Heimatstadt bereits den Rücken gekehrt. Innerlich mag er Berliner geblieben sein, und manches an seinem Stil deutet darauf hin, aber de facto war er Pariser geworden, als er 1925 zu seiner Pyrenäen-Reise aufbrach. Neugierig gemacht hatte Tucholsky ein Buch der Amerikanerin Amy Oakley, die die Pyrenäen Jahre zuvor bereist hatte. Er bekam Lust auf dieses an Geheimnissen reiche Gebirge, und so machte er sich mit seiner frisch Angetrauten Mary auf den Weg, diesen Teil Kataloniens zu erkunden - per Bahn, per Auto und so manches Mal auf Eselsrücken. Da hinten, in Bourg-Madame, schreit ein Esel. Der Kerl, der aufgebracht hat, dass Esel »I-a« schreien, stammt aus der Stadt. Ein Bauer wäre auf solche Dummheit niemals verfallen. Ein Esel schreit überhaupt nicht - er pumpt. Er hat eine Pumpe im Hals und zieht Luft aus einem tiefen Brunnen »Hüü - bcha...Hüü - bcha« Vielleicht muß man hinten am Schwanz ziehen, damit er vorn so jämmerlich schreit. Auch in die Grenzstadt Bourg-Madame sind in diesem Frühherbst (der dort ein herrlicher Spätsommer war) Mitglieder der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft gekommen, als sie den Spuren des Meisters folgten. Ihre Jahrestagung fand im Begegnungszentrum La Coume statt, das sich unweit des Dorfes Mosset in den Pyrénées Orientales befindet. Dass Tucholsky hiergewesen sein könnte, ist nicht erwiesen, und doch war La Coume der ideale Tagungsort für die kleine literarische Gesellschaft. Denn hier hatte das deutsche Emigrantenehepaar Krüger Verfolgten des Spanienkrieges Schutz geboten, die 1937/38 zu Aberhunderten über die Grenze kamen. Bald entstand hier mit Hilfe der Quäker ein Internat für Waisenkinder des Spanienkrieges, das Jahrzehnte bestand, bis La Coume seit Beginn der neunziger Jahre eine Begegnungsstätte für Kurse aller Art wurde und sich vor allem der sozialpädagogischen Arbeit widmet. Interessant ist, dass die Krügers (die inzwischen verstorben sind) von Anfang an Unterstützung bei den Einwohnern von Mosset fanden. Auch heute herrscht in dem 300-Einwohner-Ort ein fast multi-kulturelles Leben. Franzosen, Spanier, Briten, Holländer leben einträchtig miteinander. Und noch eine Besonderheit hat Mosset. Ehrenamtlich geführt existiert hier eine kommunale Leihbibliothek, die immerhin 120 regelmäßige Nutzer zu verzeichnen hat. Nur wer liest, ist in der Lage, die Welt zu verstehen, ist das Crédo der engagierten Bibliothekarin, Mme. Delettre. So hat sie auch viele Kinder für den Umgang mit Büchern begeistert. Leider liegt das Werk Tucholskys nur sehr unzureichend in französischer Sprache vor. Immerhin, eine ältere Ausgabe des »Pyrenäenbuches« gibt es hier, die nur selten im Regal steht. Doch zurück zum Grenzort Bourg-Madame. Hier hat Tucholsky im Hôtel de la paix übernachtet und sich spöttisch über die hässlichen Bilder geäußert, die er hier vorfand. Ein Gästebuch von 1925 hat man im heutigen Hôtel de la paix nicht mehr, aber anhand der plüschigen Ausstattung darf man annehmen, dass das Ehepaar Tucholsky hier abgestiegen war. Ein nostalgisches Vergnügen! Auf dem Rückweg von Bourg-Madame holte die Realität die Jünger Kurt Tucholskys ein. Mit der reizenden Kleinbahn, die der Meister beschrieben hatte, gelangte man nach Mont Louis, wo die historische Festung besichtigt wurde. Dabei stellte sich heraus, dass die Festung nicht nur historisch ist, sondern nach wie vor jungen Fallschirmspringern als militärisches Ausbildungszentrum dient. Im Rahmen der westlichen Verteidigungsbereitschaft kommt Mont Louis eine wichtige Rolle zu. Junge Menschen werden hier befähigt, ihre Feinde »auszuschalten«. Michel, ein Filou von Ausbilder mit echt französischem Charme, war stolz auf seine Arbeit. Es ist verboten, Angehörigen der Bundeswehr Tucholskys Kernsatz, dass Soldaten auch Mörder seien, vorzuhalten. Darf man Verbündete damit konfrontieren? Die deutschen Besucher fragten Michel, ob er sich nicht vor einem Kriegseinsatz scheue. Aber warum denn, konterte der junge Mann. Heutzutage gäbe es doch nur noch territorial begrenzte und entsprechend kurze Einsätze. Warum sollte man davor Angst haben! Das Abendbrot der deutschen Literaturfreunde verlief in eher beklommener Atmosphäre. Villefranche ist von alters her befestigt und hats schwer, sich auszudehnen, das Tal ist an dieser Stelle sehr schmal. Oben, hundertundachtzig Meter über der Stadt, liegt das Fort. Natürlich sind die Pyrenäen, wie fast jedes Gebirge, für die Anlage von Festungen bestens geeignet. Kurt Tucholsky war im Fort von Villefranche, das zu Zeiten Ludwigs XIV. und seiner Nachfolger abgelegten Kurtisanen als Kerker diente. Die der Lust der Herrschenden dienenden Damen wurden unter unmenschlichen Bedingungen oft jahrzehntelang gefangen gehalten. Der Grund war ihr intimes Wissen. Französischen Charme hätte es gehabt, sie mit großen Geschenken zu beruhigen. Aber sie mussten bei spärlichem Essen im Halbdunkel darben, und sollten dazu noch hochwertige Handarbeiten anfertigen. Im Ersten Weltkrieg und danach wurde das Fort als Gefängnis für deutsche Gefangene genutzt, doch nicht für irgendwelche. Es war ein Offizier-Gefangenenlager. Und nun ist meine Neugier fast ganz verglommen. Du lieber Gott: sie hatten ihre Ordonnanzen, die gingen in Zivil zur Stadt und kauften für sie ein, sie hatten alle möglichen Freiheiten, und so wenig es irgendeinem Menschen einfallen wird, sie glücklich zu nennen - die Stuben waren ganz passabel und mit den Baracken in den großen Mannschaftslagern nicht zu vergleichen. ... Die gefangenen Offiziere halten Kaninchen und pflanzen Gemüsebeete. Der Disziplin wegen. Die Berichte der deutschen Mannschaften, die gefangen gewesen sind, klingen erheblich anders. Die Tucholsky-Jünger hatten hier auch Gelegenheit, sich von Irrtümern ihres Meisters zu überzeugen. Er saß der Fehlinformation einer hübschen Pförtnerstochter auf und schrieb, Stadt und Festung wären mit einer geheimen Treppe von 1000 Stufen verbunden. Tatsächlich sind es nur 824 Stufen, wie nachzählen konnte, wer wollte, weil die Treppe inzwischen nicht mehr geheim sondern eine Attraktion ist. Tucholsky fuhr, wie seine heutigen Verfolger, ohne zu zählen weiter. ... es ist ein schönes Land, die Berge sind nicht zu hoch und nicht zu niedrig: es ist grade so etwas für Leute, die sich erholen wollen. Das liegt heute alles so versteckt - Frankreich stellt sich nicht hin und ruft: Seht! Wie schön ist es bei mir! Kommt einmal alle hierher! Nein: wenn du die Schönheit des Landes aufsuchen willst, dann mußt du sie aufsuchen - findest du sie, ist es gut, findest du sie nicht, ists den Franzosen auch gleich. Aber das ist ja in Paris genau dasselbe. Frankreich liegt nicht auf dem Präsentierteller. Im Mittelmeerstädtchen Banyuls sur Mer liegt versteckt eine Gedenkstätte, die erst vor drei Jahren errichtet wurde. Ein privater Sponsor ließ sie mit Unterstützung der Kommune errichten. Hier begann der Fluchtweg, auf dem Lisa und Hans Fittko am Beginn der vierziger Jahre viele deutsche Emigranten aus dem besetzten Frankreich führten, damit sie sich über spanische Häfen nach Übersee retten konnten. Der prominenteste unter ihnen war Walter Benjamin, dem auf der spanischen Seite, in Port Bou, ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt wird. Es steht nur 100 Meter von seinem Grab entfernt, denn Benjamin suchte tragischerweise in einem Moment des Zweifels den Tod. »Haben Sie gehört? Papon ist frei!« In der Stimme von Mossets Bürgermeister Olivier Betoin schwangen Empörung und Enttäuschung. Auch die deutschen Gäste waren über diesen Schlag gegen alle Antifaschisten bedrückt. Gut war allerdings zu sehen, dass Pyrenäen-Bewohner heute stärker politisiert sind als zu Tucholskys Zeiten. ... auch die Politik bringt diese Bauern nicht auf den Trab. »Wen wählen Sie -?« fragte ich. »Den Sohn des alten Deputierten«, sagten die Kenner, und so war es häufig. Sie wählen oft die Person und den Familiennamen, nicht die Parole und die Partei. Der Vater hats immer gemacht, der Sohn wirds auch dieses Mal machen. Das ist politisch sicherlich rückständig, aber ebenso sicher immer noch besser als ein abstraktes Listensystem, bei dem der Vorsitzende des Verbandes Deutscher Steuerassistenten zur Wahrung seiner Berufsinteressen ins Parlament geschickt wird, ohne daß mans eingestehen will. Und so sieht das Parlament ja auch aus. Ob Kurt Tucholsky in den Pyrenäen aus der Ferne eine Reichstagswahl erlebte, ist nicht überliefert. Während der Tagung der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft wurde allerdings zu Haus ein neues Parlament gewählt. Die Frage, ob man diese oder jene Fehlentwicklung bei Anwesenheit in der Heimat hätte verhindern können, stellte sich nicht. Eine Woche hätte dafür doch nicht ausgereicht. Wichtig blieb, dass man sich hier ein Stück Fremde vertraut gemacht hatte. Die Sehnsucht nach den Pyrenäen wird bleiben. Ich weiß so viel aus Büchern über die Pyrenäen. Aber was habe ich gesehen? Was kann überhaupt ein Fremder sehen? ... Ich habe immer Furcht, daß mich ein Baske, ein Katalane, ein französischer Unterpräfekt eines Tages auf der Straße anhalten wird, sich meine Notizen geben läßt, sie liest und dann spricht: »Mensch, was weißt denn du - !« Alle kursiv gesetzten Zitate aus: »Ein Pyrenäenbuch« von Peter Panther.
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