Kingston brennt, wieder einmal

Ein Jahr vor den Wahlen eskalieren die Kokainkriege unter Parteifarben

  • Peter-Paul Zahl, Kingston
  • Lesedauer: 7 Min.
Westkingston. Die Tivoli Gardens brennen wieder einmal. Über 30 Tote allein im Juli, 25 davon an zwei Tagen. Gefechte zwischen den »Guten« (Polizei und Armee) und den »Bösen« (Gangster). Vorboten eines blutigen Wahlkampfes 2002 oder Bekämpfung »normaler« Bandenkriminalität?
Um die neuen Unruhen in Kingston zu verstehen, braucht man nicht weit in der Geschichte zurückzugehen. Ehe die Briten Jamaika in die Unabhängigkeit (1962) entließen, wurde dem Land das Westminster-Modell von Demokratie übergestülpt. Und wie in jeder ehemaligen Kolonie wurden die Institutionen des Commonwealth zu deren Karikaturen. »Um eine gute Demokratie aufzubauen«, tönte Ende der Vierziger ein führender Angehöriger der Peoples National Party (PNP/Sozialdemokraten), »bedarf es einiger eingeschlagener Köpfe.« Er sagte es heiter und meinte es ernst. Zunächst mit Steinen und abgebrochenen Flaschen, später mit Revolvern und Sturmgewehren sorgte die rechte Hand des Abgeordneten mit seinen Trupps dafür, dass ein Wahlkreis in einer Hand blieb: Wahlurnen wurden gestohlen oder mit den Stimmen einer Partei vollgestopft, Wähler wurden bedroht, bei Widerspenstigkeit mit Gewalt vertrieben; die Garrisons entstanden, Wahlkreise, die ihrer Partei mit allen Mitteln treu blieben. Kingston war und ist, wie fast jede Großstadt, sozialdemokratisch. Erst der Planungsminister unter Staatsgründer Alexander Bustamante (Jamaica Labour Party - JLP) wagte es Mitte der 60er Jahre, das Monopol der Sozialdemokraten in der Hauptstadt zu brechen. Er ließ ein Elendsviertel dem Erdboden gleichmachen und eine mehrstöckige Siedlung - Tivoli Gardens - errichten, wo er seither zwischen 84 und 102 Prozent (!) der Stimmen erhielt, zwei, drei weitere JLP-Garrisons entstanden in der Folge, denen acht oder neun der Sozialdemokraten gegenüberstehen. Die Wahlkämpfe 1976 und 1980 stürzten Jamaika in bürgerkriegsähnliche Verhältnisse. Michael Manley (PNP) und Edward Seaga (JLP) waren verantwortlich für die Massaker 1980, denen (geschätzte) 800 Menschen zum Opfer fielen - sie starben im Kugelhagel der Revolverschwinger (Gunmen) beider Parteien und ihrer Leutnants (Rankins) und Paten (Dons). Die Enforcer oder Dons, die rechten Hände der Politiker, wurden nie alt. Manley nahm schluchzend an der Beerdigung seines Dons Burry Boy in den 80ern, Seaga an der seines Jim Brown in den frühen 90ern teil, und Anfang dieses Jahres trauerten der Finanz-, Transport- sowie der Wasser- und Häuserbauminister am teuren Sarg von PNP-Gangsterchef Willy Haggart. In den 80ern aber strampelten sich die Dons von ihren Parteivorsitzenden frei, um in Ruhe ihren Kokain- und Schutzgeldgeschäften nachgehen zu können. Die Zauberlehrlinge (Politiker) hatten keine Kontrolle über jene Kräfte mehr, die sie geschaffen hatten. Die Kriege zwischen den Dons wurden Kokainkriege unter Parteifarben. 1997 versuchten Armee und Polizei, wie vom sozialdemokratischen Premier P. J. Patterson angeordnet, die kampferprobten Banden im Wahlkreis von Seaga (JLP) auszuradieren. Es gelang nicht. Stattdessen brachten sie drei Zivilisten und ein Baby um. 1998 kam es zu dreitägigen Unruhen in Downtown Kingston mit zwei Toten und riesigem Sachschaden. Die Polizei hatte die Frechheit besessen, Zekes zu verhaften, den PNP-Don von der Matthews Lane. Er ist der gute Pate der Gemeinde, ermöglicht Kindern den Schulbesuch samt Uniformen, Büchern und Mittagessen, verleiht Geld ohne Zinsen, sorgt für Sicherheit und Ordnung. Er regiert den Wahlkreis, nicht der Abgeordnete, Finanzminister Omar Davies. So zogen die Schutzbefohlenen los und schafften, dass die Unterstadt für drei Tage dicht war. Resigniert stellte die Polizeiführung daraufhin Zekes auf den Balkon der zentralen Polizeiwache und drückte ihm ein Megaphon in die Hand. Strahlend versicherte der Don seinen treuen Anhängern, ihm gehe es gut, bald komme er nach Hause. Ein halbes Jahr später, im April 1999, kam es zu den größten Unruhen seit 1938. Der Finanzminister hatte das Volk für zu dumm eingeschätzt. Dies sagte sich: »We cyaan tek i no more (es reicht)!« Drei Tage konnte kein Schiff, kein Flugzeug die Insel erreichen oder verlassen, 144 Hauptstraßen waren komplett barrikadiert, es kam zu Plünderungen, (illegalerweise) wurde von der Regierung der Schießbefehl gegeben, es kam zu neun Toten, der Sachschaden belief sich auf 700 Millionen Mark! Von etwa anderthalb Millionen Bürgern im wahlfähigen Alter beteiligten sich 90000 am Barrikadenkampf, 60000 demonstrierten, 180000 warteten auf der Ersatzbank auf ihren Einsatz und 60 Prozent der Bevölkerung - von den 95 Prozent der Jugendlichen ganz zu schweigen - befürworteten diese Unruhen. Anfang 2001 trat ein Abgeordneter der herrschenden PNP aus Ekel vor Korruption und Unfähigkeit seiner sozialdemokratischen Regierung zurück. Nachwahlen wurden angesetzt. Das beste demoskopische Institut sagte den Sieg der Opposition voraus; die Führung der PNP konnte dies nicht glauben und steckte viel Geld und alle Spitzenfunktionäre in den Wahlkreis. Einer ihrer Ratsherren von St. Ann drohte Landbesetzern - ein enorm großes Wählerpotenzial -, wählten sie die seit drei Legislaturperioden herrschende PNP nicht, »verlören sie alles«. Diese Ärmsten der Armen versprachen ihm willig zu sein und - wählten die Kandidatin der JLP. Wochen später taten dann Beamte der Urban Development Corporation, geschützt durch Spezialeinheiten der Polizei mit M 16, morgens um zwei ihr Werk: Mit Vorschlaghämmern wurden Hütten, Möbel, Haushaltsgeräte der widerspenstigen Labourites dem Erdboden gleichgemacht. Mit dem Tod des sozialdemokratischen Dons Willy Haggart entstand in dessen Stadtteil ein Machtvakuum. Schnell stellte sich heraus, dass es nicht die verhassten Revolverschwinger aus Tivoli, die Labourites waren, die drei PNP-Gangster umgelegt hatten. Gangster aus der zweiten Reihe kämpfen um die Nachfolge der Dons. In ganz Westkingston kommt es zu Mordserien. Oppositionsführer Seaga (JLP) und Finanzminister Davis (PNP), ihre Adjutanten und einige besonnenere Revolverschwinger versuchen hektisch den seit einiger Zeit vereinbarten Frieden wieder herzustellen. Umsonst. Wer auch immer im Kokain- und Schutzgeldgeschäft an die Spitze kommt, ist in kürzester Zeit US-Dollarmillionär. Vergebens beschwört Seaga jene Gunmen, die er kennt und für loyal hält, nicht in den Bandenkrieg einzugreifen, nicht in die Falle zu gehen. Er hat nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren, wenn sich Westkingston wieder im Bürgerkrieg befindet: In den Meinungsumfragen führt seine Partei mit 16 Prozentpunkten. In der Nacht von Freitag, dem 6. Juli, auf Samstag aber wird die perfide Strategie der PNP, ein für allemal mit dem Feind, den Labourites, in deren Hochburg Tivoli aufzuräumen, jedem klar. Die Revolverschwinger der PNP erschießen Menschen in Stadtteilen, welche die Frechheit besitzen, die Opposition zu wählen, fackeln ganze Häuserzüge ab und richten nun, in strategisch guter Position, ihre Kalaschnikows und Handfeuerwaffen auf die Heimstätten der JLP, Denham Town und Tivoli. Unterstützt werden sie schnell von der geballten Feuerkraft von Armee und Polizei, die vorgeben, Razzien in Tivoli durchführen zu müssen. Geschickt aber nutzen die Gunmen der Labourites Hochhausdächer, Mauern, Unterschlüpfe und schießen zurück. Wie 1997 ist der Versuch, Tivoli auszuräuchern, gescheitert. Am 12. Juli berichtet der Gleaner lakonisch: 25 Tote, 41 im Zentralkrankenhaus behandelte Schwerstverletzte. Mit kleinen Sternchen markiert die älteste und größte Tageszeitung Jamaikas die Namen jener Leichen, die mit 100-prozentiger Sicherheit von den Sicherheitskräften ermordet wurden. Von zehn Kadavern, die nicht von den Straßen und Bürgersteigen Westkingstons nach zwei beziehungsweise drei Tagen geborgen werden konnten, haben acht dieses Sternchen! Der einflussreiche Verband der Privatwirtschaft, von Oppositionsführer Seaga um Hilfe gerufen und samt Medien zu den Stätten des Elends und Schreckens geführt, besteht entgegen den Wünschen der Polizei, die Leichen sofort zu bestatten, auf einer forensischen Untersuchung: Ihnen - den wahren Herrschenden der Insel - kann dann nicht vorgeflunkert werden: Sternchen Nr. 1 eine bekannte Trottelin, Sternchen Nr. 2 ein Schwarzer Sheriff auf dem Wege zur Arbeit, Nr. 3 ein alter Mann, Nr. 4 ein Handkarrenmann vom Coronation Markt, Nr. 5 ein Mann mit dem Spitznamen Rumhead und so weiter - Gunmen aus Tivoli Gardens?, die »nach Feuergefechten mit Polizei und Armee ihren Wunden erlagen«, wie es offiziell heißt. Der Unternehmerverband ist somit im Einvernehmen mit den Menschenrechtsorganisationen, die seit Jahren versuchen, den Massakern der Polizei entgegenzutreten. Jamaika steht an zweiter Stelle der Morde pro 100000 Einwohner und in Relation zur Gesamtbevölkerung an einsamer Spitze der von der Polizei umgebrachten Menschen - 140 im Jahr 2000 laut Amnesty. Zurzeit hat der Unternehmerverband Premierminister und Oppositionsführer an den Verhandlungstisch gezwungen. Den Unternehmern ist es egal, wer politisch regiert, solange sie in Ruhe ihren Geschäften nachgehen können. Und erstaunlicherweise ist seinem Vorsitzenden Peter Moses sogar zu glauben, wie entsetzt und erschrocken er über die Verhältnisse in den Slums von Kingston ist, die er zum ersten Mal in seinem Leben von Nahem sehen konnte. Ob seine und seiner Kollegen Betroffenheit so schwerwiegend ist, dem seit zwei Jahren geforderten Sanierungsprogramm für die Innenstadt nahe zu treten oder es gar handfest realisieren zu helfen, steht noch in den Sternen. Geschieht dies nicht, geht der Krieg in Westkingston und anderswo auf Jamaika weiter. »I dont want no peace, I want equal rights and justice«, sang Peter Tosh. Auf Jamaika wird es solange keinen Frieden geben, als es keine Gerechtigkeit für die Erniedrigten und Beleidigten gibt. Unser Autor lebt als Schriftsteller und Theaterregisseur seit 1985 in Jamaika.

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