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  • Kultur
  • Harald Kretzschmars Berliner Sommergalerie-Rundgang

Die erholsame Gewohnheit des Kunstbummelns

  • Lesedauer: 5 Min.

Der ortsübliche Berliner Kunstmensch ist beflissen. Das Wort Bummeln muß er als ehrenrührig von sich weisen. Eine Mammutausstellung im Gropiusbau oder in der Neuen Nationalgalerie beehrt er mit äußerster Anteilnahme und verhilft den ohnehin von Selbstgewißheit überquellenden Machern zu Besucherrekorden. Gewichtige Quantität genießt Respekt. Sympathische Intimitäten werden eher ignoriert. Mein Rat: Berliner, macht die Augen auf, und nehmt eure vielen Galerien wahr! Der Bismarck-Biograph Ernst Engelberg empfiehlt, den Tag mit einem Gedicht (gelesen) zu beginnen. Ich rate, die Woche mit einer Bildmeditation in einer Galerie zu krönen.

Denn keine andere deutsche Stadt bietet eine solche Fülle an Bildangeboten. Man denke: Dreihundert Galerien im Juli/August mit fünfhundert zeitgenössischen Ausstellern! Da routinemäßig gerade Urlaub angesagt ist, fliehen Einheimische die Stadt, und Auswärtige füllen das Sommerloch. Konzert-und Theaterbetrieb ruht, doch dem erlebnishungrigen Schaulustigen winkt die Bildkunst. Kaum

ein Galerist ruht sich auf dem schmaler gewordenen Verdienstpolster aus: man hält die Tür auf, Kunstbummler, komm rein! Das Spannende ist - man kann auf eigene Faust und eigene Gefahr das Neueste entdecken.

Von den Nobelgalerien wie „Blue Point“ Kudamm 35 lasse man sich nicht täuschen: Unten kostbares köstliches Glas, oben zigster Aufguß abgestandener Altabstraktionen von Harald Gnade (bis 31. 7.). Man flaniere mal vom Bahnhof Zoo nicht zur Gedächtnisruine, sondern die Kunstmeile en miniature, die Fasanenstraße lang. Gunar Barthel steht vor der ersten Tür und flüstert: Galerie, Moderne, sensibel, groß gesehen, Chemnitzer und Münchner Junge. Klaus Süß? frage ich. Den hatten wir im April, meint er, jetzt Hartzsch, Ranft, Sobolewski. Und die Bayern? Bartscht, Bindl, Saub. Bis 7 9. Weiter geht's mit den Galerien „Springer“, „Pels-Leusden“ (effektvolle Tuschen von Markus Prachensky bis 21.8., Kleinplastik vom Feinsten noch länger). „Bremer“ renoviert, „Ago“ lassen wir links liegen, „Art Communication“ schon um die Ecke Pariser

Straße lockt bis Ende August eine superfeine halb-abstrakte Dame van Haaren - aber mich zieht's schräg rüber zu Klaus Märtens mit seiner Realistengalerie „Taube“ Der niedersächsische Kunsterzieher mit dem Nebenberuf des Berlin-Galeristen überrascht diesmal mit einem schweizerischen Kanadier - wie stets mit gediegenem Katalogheft. Der virtuose Aquarellist Rudolf Stüssi löst Prenzlberg-Fassaden und Schöneberger Cafe-Interieurs in tänzerische Arabesken auf - die charmantschwungvolle Fortsetzung einer Brotarbeit als Hintergrundmaler für „Asterix“-Filme mit anderen Mitteln (bis 14. 8.).

Wo konzentrieren sich sonst Galerien? Natürlich in Kreuzberg- „Grober Unfug“, „Chamissoplatz“ und Konsorten. Aber neuerdings zum Glück auch am Oranienburger Tor. Da geht's flott alternativ zu, zwischen Szenekneipen, Antiquariatshöhlen und Minikaffeehäusern stolpert man spätestens bei „Tacheles“ über den Sklulpturenpark und andere Kunst. Die schrägen Damen bleiben rechts liegen, links die Auguststraße rein

leuchtet bei „Kunstwerke e. V.“ Antonio Muntadas' Stadium IX bis 19. 9. ultraalternativ Schräg gegenüber versichert Gerd Harry Lybke aus Leipzig, daß seine Berliner „Eigen+ART“-Filiale im Gegensatz zum Hauptsitz den Sommer über zu den Namen Dittmer, Jung, Milev offenhält. Wieder um die Ecke sind wir schon in der Sophienstra-ße 24 im Hof bei Hella Utzt und Sabine Kahra von „Sophien-Edition“

Ja, die Berliner Galeriefrauen! In Ost ein eigenes Kapitel, eine Arbeit zum Vorzeigen. Hier sind Künstler der Galerie u. a. Gerd Mackensen und Klaus Zylla, Künstlerinnen Nuria Quevedo und Dagmar Ranft-Schinke. Für die gehen die Galeristinnen durchs Feuer des Kommerzes bis zur Frankfurter Kunstmesse ART - mit Erfolg. Durchs Galerie(hinter)haus hindurch wird man in eine Remise gelockt. Dort inszeniert die Exbühnenbildnerin Gabriele Koerbl als vorläufig letzten Akt ihres Weges in die Abstaktion mit zwei anderen Oderbruchfrauen ein geheimnisvolles Ereignis: Einige ihrer „400 Köpfe zwischen 89 und 92“ bleiben

folgerichtig gesichtslos hinter ragenden „Steinen“ von Sylvia Hagen und neben etwas hilflos wirkenden „Helfer“-Zeichen von Monika Maria Nowak - das wächst zum Erlebnis (bis 31. 8.).

Da ballt sich allerhand an Kommerz-Galerien. In ganz anderen Stadtgegenden wirken kommunale Projekte als Oase recht gut. Die Großen im Berliner Westen machen neuerdings zu oft Kunstpausen eine Blamage für so reiche Bezirke wie Zehlendorf (Argentinische Allee 30) und Wilmersdorf (Hohenzöllerndamm 176). Und im Osten? Friedrichshain hat die „Passage“ Frankfurter Allee 94a bei dem einfühlsamen Günter Muth in guten Händen, und in Lichtenberg wirbelt Dörthe Lammel mit „Sophienstr. 8“ ganz schön mit originellen Themen wie jetzt „Goldoni kommt“ (Teil 1 Metzkes bis 31. 7., Teil 2 mit original Italienischem 1 im September).

„Galerie Pankow“, von Barbara Goldstein und Hanne Koppe kommunal gemanagt, ist aus dem Laden raus in die erste Etage Breite Straße 8 gezogen. Da gibt's den Nachlaß

der wunderbaren Elizabeth Shaw (bis 28. 8.). Kinder, vor allem Kinder, geht hin! Die zartfühlende und zartzeichnende Irin wohnte bis zu ihrem Tod 1992 gleich um die Ecke und erwärmte mit ihrem feinen Humor so manches Buch und so manche Zeitung, bis hin zum ND. Von dem vielen Besinnlichen und zu Belächelnden am meisten bewegt hat mich ihr letztes Skizzenblatt vom Februar 1991: Ein Rabe sitzt auf dem Fensterbrett. Daneben vorzügliche Hanns-Eisler-Skizzen. Endgültig ins Saubere hat sie ihn dann von hinten gezeichnet, ja, so war sie, die Elizabeth...

Nun sage bloß einer, in Berlin ist im Sommer nichts los. Da gibt's zu wundern und zu gucken, zu schlendern und zu staunen, zu bummeln und zu genießen. Aber wohlgemerkt: Erst am Nachmittag geht die Galeriesonne auf! Vor 14 Uhr öffnet kaum eine Galerie, einige sogar erst später (Taube 16 Uhr). Für Leute, die alles wissen wollen und dazu genau, gibt Angelika Heidrich jeden Monat den kleinen blauen „Berliner Kunstkalender“ heraus. Für zwei Mark sind Sie dabei!

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