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Von GERHARD MÜLLER

  • Lesedauer: 7 Min.

Winnetou und sein weißer Bruder Old Shatterhand - Illustration in der Erstausgabe des Abenteuer-Romans „Der Oelprinz“, 1897. In diesem Buch präzisierte Karl May seine Vorstellung von einer friedfertigen Neuen Welt: Es ist ein Land der Gerechtigkeit und ohne

Wagner-Musik Repro aus „Der Mann, der Old Shatterhand war“, Verlag der Nation Berlin, 1988

mühle des Deutschtums wie nach ihm nur noch Hitler. Zu diesem Siegfried gehörte untrennbar sein Gegenbild, jene minderwertige, gekrümmte Gestalt unter seinen Füßen, mal war es ein tückischer Zwerg, dann ein Wurm oder Drache. Wer das war, wußte man und sprach es aus: Es war der geldgierige Jude, der dem deutschen Volke das Blut absaugte. Das hatte schon Wagner selbst so gesagt, man darf es nicht beschönigen.

Um 1890 sprachen es besonders laut der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker und der Kunstwissenschaftler Julius Langbehn aus, dessen Broschüre „Der Rembrandtdeutsche“ in riesigen Auflagen unter das Volk gebracht wurde. Darinnen las man schon im Goebbels-Stil: „Deutschland steht auf Wacht! Nibelungengeist gegen Synagogengeist! In Worms sind schon einmal Juden verbrannt worden! Geben die letzteren acht, daß es nicht wieder so kommt...wer weiß, ob nicht doch noch einmal in Deutschland Juden verbrannt werden.“ Die Siegfried-Gestalt des deutschen Kaiserreichs war auch ein Symbol des Antisemitismus. Wenn man sich dies vor Augen hält, dann fällt es leicht, in dem Kantor emeritus des „Ölprinzen“ die polemische Absicht zu erkennen.

Karl May war ein Pazifist und ein Feind des Rassismus. Noch in seinem letzten öffentlichen Vortrage, am 22. März 1912, eine Woche vor seinem Tode, wird er die Verdienste der Juden um Wissenschaft und Kunst ausdrücklich hervorheben, was ihm die konservative Presse übel vermerkte. In den 90er Jahren polemisierte er jedenfalls nicht mit Zeitungsartikeln gegen die Umfunktionierung des Siegfried-Mythos, sondern er reagierte als Schriftsteller, indem er versuchte, ein friedlicheres Heldenideal zu schaffen und zugleich die musiktrunkenen Yerfechter der germanischen Überlegenheit der Lächerlichkeit preiszugeben.

Damit sind wir wieder bei unserem Kantor emeritus Matthäus Aurelius Hampel, dessen hochtrabender Name nur den berühmten winzigen Schritt vom lächerlichen Hampelmann entfernt ist. Vieles, was ihm widerfährt, ist Alberei und Ulk, es haut in die beliebte Kerbe der Opernverspottung.

lebt, zu einer irrealen Spinnerei, „Oper“ in des Wortes schlechter Bedeutung. Nur daß es nicht dabei bleibt. Der Kantor mißversteht die Ereignisse nicht nur, er versucht ihren Lauf auch nach den Regeln der Operndramaturgie eingreifend zu verändern. Das führt zu nichts Gutem. Mehrfach bringt er seine Gefährten, die ihm zuerst mit unendlicher Geduld begegnen, in Gefahr, und am Ende ist er bereit, sie zu verraten, um sich in der Wirklichkeit ein effektvolles Opernfinale zu inszenieren. Er hört, daß die Nijora-Indianer am „Winterwasser“, (einem ausgetrockneten Flußbett) einen Hinterhalt gelegt haben, wo sie die sächsischen Auswanderer überfallen, berauben und töten wollen; daß aber Old Shatterhand und Winnetou die Navajo-Indianer, die mit ihnen im Kriege liegen, beredet haben, die Nijoras ihrerseits zu umzingeln. Sie sollen im Augenblicke des Überfalls hervorbrechen und sie besiegen. Das ist willkommen. Der große Endkampf, gleichsam eine amerikanische „Götterdämmerung“, entsteht vor seinem geistigen Auge.

Die Klagerufe der Frauen, Old Shatterhands Kampfesruf, die Chöre der Krieger, die Schlachtenmusik, den heranrasenden Walkürenritt der rettenden Navajo-Indianer hat er schon im Kopfe fertig. Doch zu seiner Enttäuschung, ja zu seinem Entsetzen vernimmt er weiter, daß Old Shatterhand ganz anderes vorhat: Wenn durch das unerwartete Erscheinen der Navajo-Indianer die Lage der Nijoras aussichtslos geworden ist, will er das Gemetzel vermeiden und beide Stämme miteinander versöhnen. Das paßt nun nicht ins Opernbild, und deshalb beschließt der ruhmsüchtige Kantor, in der entscheidenden Minute nach der falschen Seite zu laufen und den Nijoras vorzeitig die Anwesenheit der Navajos zu verraten, so daß die indianische Kriegs-Maschinerie unkontrollierbar anliefe. Das überschreitet das Maß der Parodie und des bloßen Ulkes. Die beiden Konzeptionen - der Siegfried-Mythos und die pazifistische Utopie - treffen unmittelbar aufeinander.

Karl May führt sein Anti-Opern-Finale literarisch gran-

dios aus. An die Stelle eines Schlachtengemäldes tritt ein dramatischer Dialog zwischen Old Shatterhand und den beiden verfeindeten Indianerführern, die in den versöhnenden und zugleich anklagenden Worten von Karl Mays literarischem alter Ego gipfeln: „Meine Brüder wissen, daß ich ein Freund der roten Männer bin. Dem Indsman gehörte das ganze Land von einem Meer bis zum anderen. Da kam der

Weiße und nahm ihm alles und gab ihm dafür seine Krankheiten. Der Weiße ist sein Feind und hat ihn am meisten dadurch besiegt, daß er Unfrieden unter die roten Völker warf und einen Stamm gegen den anderen aufhetzte. Die roten Männer waren so unklug, dies geschehen zu lassen, und sie sind selbst bis auf den heutigen Tag nicht klüger geworden. Sie reiben sich untereinander auf und könnten doch heut noch

Der eine in großer Pose, der andere in großer Robe: Richard Wagner auf einem Foto von Ludwig Angerer (1862/63) und Karl May im Kostüm seines literarischen alterego Old Shatterhand (um 1898)

Großes erreichen, wenn sie den gegenseitigen Haß fallen ließen und unter sich das wären, was sie sein sollen und wozu sie geboren sind, nämlich Brüder Habe ich recht?“

Der Kantor erlebt dies Friedensfinale nicht mit, weil ihn Old Shatterhand fesseln lassen hatte und unter Aufsicht des Bankiers Rollins am Chellyflusse zurückließ. Aber auch da richtet er Unheil an. Denn nun naht sich der Hochstapler

Grinley, der betrügerische Ölprinz, der Rollins sucht, um ihm den Scheck abzujagen, den dieser ihm für den Ölbetrug gegeben, aber später zufällig wieder zurückerhalten hatte. Rollins sieht Grinley und seine Kumpane kommen und versteckt sich. Sie finden den Kantor, der ihnen Rollins' Versteck verrät, obwohl er ihre schlimmen Absichten kennt. Sie stellen ihm vor, eine wie effektvolle Szene es wäre, wenn sie statt seiner Rollins fesselten und der Wächter nun seinen Gefangenen um das Losbinden anflehen müßte. Der Kantor erleidet einen seiner höchsten Inspirationsmomente: „Eine herrliche Szene! Erst flehe ich ihn an; das gibt eine Gnadenarie für Bariton. Er verweigert mir die Erfüllung meiner Bitte im zweiten Baß. Dann wird der Bariton frei und der zweite Baß wird angebunden. Das gibt wieder eine Gnadenarie, auf welche dann ein großes Duett für zweiten Baß und Bariton folgt. Das macht Effekt, ungeheuren Effekt!“ Und so verrät er den unglückseligen Bankier, der beraubt und angebunden wird. Es kommt aber weder zu einer Gnadenarie noch zu einem Duett, sondern der Bankier verpaßt dem Kantor, als der ihn endlich losbindet, den höchst verdienten Faustschlag.

Was Karl May beschreibt, sind natürlich Fiktionen. Man könnte ihn mit seiner eigenen Satire schlagen. Es wäre ein billiger und schäbiger Sieg. Denn was seine Fiktionen, oder sagen wir besser seine Utopien von dem parodierten Siegfried-Mythos unterscheidet, ist ihre Denkrichtung. Es sind die Träume der armen sächsischen Weber, Tagelöhner und Dienstboten, von denen er selbst herkam. Amerika ist nur die Inkarnation dieser Gerechtigkeitsträume, und der Roman kann deshalb auch nicht enden, ohne daß die sächsischen Auswanderer, , an ihr i Ziel gelangen. Sie erhalten von den versöhnten Indianerstämmen Land zur Ansiedlung, und eine der wirklichen, nämlich aus der Wirklichkeit stammenden Heldinnen des Buches, die . resolute Rosalie Eberschbach, geborene Morgenschtern, verwitwete Leiermüllern, bricht in die denkwürdigen Worte aus:

„Jetzt soll mir jemand sagen, daß die Wilden nicht viel besser sind als die gebildeten Leute bei uns derheeme. Keen Mensch ist bei uns drüben so human, eenen armen Teufel een solches Geschenk zu machen, und noch dazu een so großes. Drüben würde uns niemand auch nur das kleenste Feld- oder Gartenbeet anbieten.“ Und sie setzt sorgenvoll das endgültige Verdikt über den Kantor hinzu: „Hoffentlich wird der Kantor nich ooch dableiben wollen. Da könnte uns das ganze Glück in den Brunnen fallen.“

Das ist ein kompletter Gegenentwurf zum Siegfried-Mythos und zum wilhelminischen Deutschland überhaupt, ein Land der Gerechtigkeit und ohne Wagner-Musik. Nein, Wagners Musik rauscht nicht durch diese Buchseiten, es könnte nichts Fremderes geben. Die Musik, die wir vernehmen, und die gelegentlich erwähnt wird, ist die der sächsischen Dorfarmut: Tanz- und Schenkenmusik auf Ziehharmonika und Klarinette. Und indirekt gehört der Lutherchoral dazu, den der Kantor auf dem Wege zum Wagner-Ruhm so nachdrücklich an den Nagel hängt. Die originale amerikanische Musik fehlt allerdings. Karl May konnte sie nicht kennen, weil er um jene Zeit Amerika noch nicht bereist hatte. Aber ich bin mir sicher, wenn Karl May in St. Louis gewesen wäre, die Minstrel-Shows gesehen und Scott Joplin und die anderen Ragtime-Pianisten gehört hätte - diese Musik wäre in seinen Romanen auch präsent.

Unser Autor ist Operndramaturg und Musikschriftsteller und lebt in Berlin.

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