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  • Kultur
  • „Mysterien“ von KNUT HAMSUN, neu übersetzt

... und springt sofort ins Meer

  • Lesedauer: 4 Min.

ring. Einen Geigenkasten hat er bei sich (der allerdings nur schmutzige Wäsche enthält). Und er macht einen einfältigen und verkrüppelten Mann namens Minute zu seinem Vertrauten. Er wirbt um die schöne Dagny, die mit einem feschen Offizier verlobt ist und deretwegen sich gerade ein junger Mann umgebracht hat; gleichzeitig fühlt er sich zu einer armen ältlichen Jungfer hingezogen, der er unbedingt helfen will. Er besucht Gesellschaften und stößt die Honoratioren der Stadt vor den Kopf. Er verhöhnt und provoziert, läßt Haß und Verachtung spüren und immer wieder die Phantasie spielen, kurzum, er erweist sich als ein widersprüchlicher, komplizierter „moderner Mensch in der Selbstanalyse“ (Anni Carlson), überschäumend, lebensbejahend, verletzend und verletzlich zugleich.

Stets trägt er ein kleines Medizinfläschchen in der Westentasche, mit einem Totenkopf darauf. Zunehmend plagen ihnZweifel, Selbstmordvisionen und Verfolgungswahn. Traum und Realität vermischen sich schließlich immer verhängnisvoller: „Er erreicht die Landungsbrücken, nimmt den Weg bis zum äußersten

Von PETER L. ZWEIG

Knut Hamsun: Mysterien. Roman. Aus dem Norwegischen von Siegfried Weibel. List Verlag München. 360 S., geb., 44 DM.

Kai und springt sofort ins Meer. Ein paar Blasen steigen auf Nagel ein Flaneur, ein Nihilist, ein konstruierter Gegenentwurf zu den konstruierten „Typen“ der Dramen Ibsens zum Beispiel? Nein, dazu ist das soziale Umfeld dieses Verweigerers, dieses Antibürgers und anarchistischen Rebellen zu genau gezeichnet.

Hamsuns „Hunger“ war sein eigener gewesen und nicht etwa der notleidender Proletarier oder Landarbeiter (es ist die Zeit der großen elendsbedingten Auswanderungswelle von Skandinavien nach Amerika). Und so trägt auch Nagel Züge seines Schöpfers. Die harte, entbehrungsreiche

Kindheit auf dem Hof eines brutalen Onkels kommt ebenso zur Sprache wie Erfahrungen aus der weiten Welt, besonders aus Amerika. Nagel verachtet wie Hamsun das Unechte, Angepaßte, lehnt wie er die Demokratie der Schwächlinge ab und offenbart elitär-aristokratische Sympathien. Er ist jedoch kein Monster; wenn man die Gespräche mit Minute liest,

hat man oft den Eindruck, eine Art inneren Dialog zu verfolgen, den eines Suchenden...

Hamsuns „Mysterien“ sind von der zeitgenössischen Kritik weitgehend abgelehnt worden; die literarische Qualität des Buches, der Aufbruch darin, wurden selten erkannt. Vielleicht schreckte auch die Radikalität der Zivilisationskritik; Hamsun wollte weg, aber wohin? Der „Segen der Erde“, so der Titel seiner historisch regressiven Utopie von 1917, für die er den Nobelpreis erhielt, war ihm wohl noch nicht zuteil geworden, die Flucht in eine ihm lebenswert erscheinende vorkapitalistische Zeit noch nicht angetreten. Später dann wurden gerade die „Mysterien“ zu jenem Roman, an dem man den Einfluß Nietzsches nachweisen zu können glaubte, der als Antizipation Kafkas und der Surrealisten galt. Die Leser aber haben Hamsun von Anfang an verstanden, vielen Intellektuellen, darunter nicht wenigen Schriftstellerkollegen, waren die „Mysterien“ ein Kultbuch.

War es notwendig, Hamsuns „Mysterien“ in einer neuen Übersetzung herauszubringen? Ja und nein. Die erste deutsche Ausgabe erschien bereits 1894, bis vor kurzem war die Übersetzung J. Sandmei-

ers, Copyright List Verlag 1958, als Taschenbuch erhältlich. Sandmeiers Version ist elegant und inspiriert, nach Überarbeitung einiger „altertümlicher“ Wendungen hätte sie Maßstäbe setzen können. Die Neuübertragung von Siegfried Weibel folgt der norwegischen Ausgabe letzter Hand und ist auch im Detail sicher sehr genau, allein ihr fehlt ein Funke Leben. Weibel lehrt an der Universität Kristiansand in Norwegen und promoviert über Hamsuns Erzähltechnik, vielleicht war er einfach zu nahe dran am norwegischen Original und zu wenig unter Deutschsprechenden. Ein Beispiel: „Seinen Geigenkasten stellte er mitten im Zimmer, als wolle er ihn zur Schau stellen, auf einen Stuhl; er öffnete ihn aber nicht und ließ das Instrument unangetastet“, heißt es trocken und unbeholfen bei Weibel. Sandmeier brachte den Satz in einen Rhythmus und traf eher ins Schwarze, als er schrieb: „Seinen Geigenkasten stellte er mitten im Zimmer auf einen Stuhl, wie um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken; aber er öffnete ihn nicht und ließ das Instrument unberührt liegen.“

Trotzdem ist es gut, das Hamsun, der im fortgeschrittenen Alter mit dem Faschismus paktierte und Quisling unterstützte, durch dieses wichtige Buch wieder ins Gespräch kommt und gelesen wird. In Hamsuns Werk drückt sich eine Ambivalenz aus, die symptomatisch ist für die Moderne und aktueller denn je.

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